Product-Market Fit: Die Schicksalsfrage für neuartige Produkte

Product-Market Fit zu erreichen ist die Schicksalsfrage für jedes Startup. Der Fit markiert das Ende der Lern- und Experimentierphase, in der die Gründer ihre Zielgruppe kennenlernen und die optimale Form für ihr Produkt noch suchen. Er gibt den Gründern grünes Licht für die Wachstumsphase, in der sie beginnen, ihr Unternehmen zu skalieren und Geld zu verdienen.

Dieser Artikel erklärt Product-Market Fit und dessen Bedeutung für innovative Produkte. Er wurde zwar für Startup-Gründer geschrieben, ist aber auch für Produkt- und Innovationsmanager in etablierten Unternehmen relevant, wenn sie neuartige oder sogar disruptive Produkte planen. Der Artikel stellt auch den Product-Market Fit Planner vor – ein neues Werkzeug, um die Lernphase zu strukturieren, damit das Produkt am Ende die größtmöglichen Erfolgschancen bekommt.

Was ist Product-Market Fit?

Product-Market Fit means that your product has evolved to the point that the market finds it attractive and you can therefore start to scale up your company. The Founder’s Playbook

Startups haben innovative Produkte, die es in der Form noch nie gegeben hat. Sie bringen dadurch Unruhe in bestehende Märkte, oder sie erschaffen sogar ganz neue Märkte. Das hat aber zur Folge, dass ihre Gründer oft nicht einmal wissen, wer ihre Zielgruppe ist, ob es eine Nachfrage nach ihrem Produkt geben wird und in welcher Form sie ihr Produkt anbieten müssen, damit es möglichst reibungsfrei angenommen wird.

Die Lean Startup-Idee ist entstanden, um mit diesen Ungewissheiten umgehen zu können. Zur Denkweise bei Lean Startup gehört, dass jede Gründung mit einer Lernphase beginnen muss, in der die Gründer ihre Zielgruppe kennenlernen und mit Hilfe von Experimenten ihre Ideen testen. Das Ziel dieser Lernphase ist der Product-Market Fit.

Ein guter Product-Market Fit heißt, die Gründer haben ihr Produkt so weit entwickelt, dass es zu seiner Zielgruppe passt. Das bedeutet, dass die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind:

  1. Der Wunsch der Zielgruppe nach einer (besseren) Lösung ihres Problems ist groß.
  2. Das Produkt erfüllt die Bedürfnisse der Zielgruppe und liefert ihnen beträchtliche Vorteile gegenüber dem Status Quo.
  3. Das Produkt erzeugt bei der Zielgruppe keine Probleme, die den Kauf verzögern oder verhindern könnten.

Warum Product-Market Fit wichtig ist

You can always feel product-market fit when it’s happening. The customers are buying the product just as fast as you can make it. – Marc Andreessen

Für ein Startup bedeutet ein guter Product-Market Fit, dass die Kundenakquise fast von alleine läuft. Man erkennt ihn daran, dass wichtige kundenbezogene KPIs ins Positive drehen, zum Beispiel:

  • High Conversion Rate: Die Erfolgsquote in der Kundenakquise verbessert sich.
  • Low Customer Acquisition Cost: Die Ausgaben, um neue Kunden zu gewinnen, sinken.
  • Low Churn Rate: Der Anteil der Neukunden, die schon nach kurzer Zeit wieder abspringen, schrumpft.
  • Quick Decision: Interessenten treffen ihre Kaufentscheidung schnell und beschweren sich nicht über den Preis.
  • Frequent Referrals: Der Anteil der Kunden, die das Produkt weiterempfehlen, wächst.

Ein guter Product-Market Fit ist eine Voraussetzung für die sogenannte Series A-Investition einer Venture Capital-Gesellschaft, mit der Startups ihr Wachstum finanzieren. Mit einem guten Fit zahlt sich jeder Euro, der in Marketing investiert wird, in Form von neuen, treuen Kunden aus.

Umgekehrt gilt: Wenn die Wachstumsphase ohne Product-Market Fit gestartet wird, wird sie sehr wahrscheinlich misslingen. Jede noch so aufwändige Marketing-Aktion muss wirkungslos bleiben, wenn das Produkt den Erwartungen der Zielgruppe nicht entspricht. Diese Fehlentscheidung wird Premature Scaling (verfrühter Wachstumsversuch) genannt und ist der schwerste vermeidbare Fehler, den Startup-Gründer begehen können. Er hat zu einigen spektakulären und teuren Flops geführt, 2017 zum Beispiel der von Juicero.

Die zwei Seiten von Product-Market Fit

Wenn ein potenzieller Kunde den Kauf eines innovativen Produktes in Betracht zieht, wirken zwei entgegengesetzte Kräfte in ihm: Eine treibende Kraft (Driving Force), die ihn zum Kauf des neuen Produktes bewegt und eine bremsende Kraft (Restraining Force), die ihn vom Kauf abhält:

Die zwei wirkenden Kräfte bei einer Kaufentscheidung.

Die Aufgabe der Gründer in der Lernphase besteht darin, mit Hilfe von Zielgruppenforschung Produktanpassungen und -ergänzungen zu finden, die die Vorteile ihres Produktes stärken und die Probleme und Bedenken der Zielgruppe beseitigen.

Das Verhältnis dieser beiden Kräfte ist ein Maß für die Güte des Product-Market Fit: Erst, wenn die treibende Kraft mit deutlichem Abstand überwiegt, kann man von einem guten Fit sprechen. Eine Faustregel besagt, dass ein Startup-Produkt einen zehnfach höheren Kundennutzen bieten muss, als der Status Quo.

Die treibende Kraft

Die treibende Kraft entsteht durch die Kundenvorteile, die das Produkt bietet. Je zahlreicher und größer diese Vorteile sind, desto stärker ist die Motivation zum Kauf.

Ein geringes Interesse für das neue Produkt bei der Zielgruppe ist ein Hinweis dafür, dass die treibende Kraft noch nicht groß genug ist. Das kann unter anderem eine der folgenden Ursachen haben:

  • Das Produkt bedient kein Kundenbedürfnis.
  • Das Problem, das durch das Produkt gelöst wird, hat bei der Zielgruppe keine hohe Priorität.
  • Die Lösung, die der Kunde bereits besitzt, ist ihm gut genug.
  • Dem Kunden fehlt etwas, um den maximalen Nutzen aus dem Produkt holen zu können.
  • Das Produkt löst das Kundenproblem nur teilweise.

Die bremsende Kraft

Die bremsende Kraft hält potenzielle Kunden davon ab, das Produkt zu kaufen. Sie entsteht durch die Bedenken und Hürden, die beim Kunden vorliegen und die gegen das Produkt sprechen.

Die Liste der Barrieren, die das Kaufinteresse bremsen können, ist sehr lang und vielfältig. Hier sind fünf typische Beispiele:

  • Das Produkt ist zu kompliziert.
  • Der Einsatz des Produktes hat einen unerwünschten Nebeneffekt.
  • Dem Kunden fehlt eine Rahmenbedingung, die das Produkt benötigt.
  • Das Produkt ist nicht kompatibel zum Alltag bzw. zum Geschäftsprozess des Kunden.
  • Der Wechsel zum neuen Produkt ist zu teuer oder zu aufwändig.

Den Weg zum Product-Market Fit finden

Think of product-market fit like an ever-evolving experiment. You should constantly be evaluating your product’s performance and your customers’ reactions to it – and then making any necessary adjustments. – Kat Boogaard

Die Suche nach einem guten Product-Market Fit kann viele Monate dauern; es fallen dabei viele Informationen an, und es müssen viele Entscheidungen getroffen werden. Durch unsere Zusammenarbeit mit Gründern wissen wir, wie unübersichtlich und verwirrend diese Phase sein kann, also haben wir ein Werkzeug entwickelt, das sie dabei unterstützt.

Der Product-Market Fit Planner

Der Product-Market Fit Planner ist ein Werkzeug, das Gründern hilft, Kundenexperimente zu planen, die Erkenntnisse daraus zu interpretieren und Ideen für wünschenswerte bzw. notwendige Produktanpassungen zu organisieren. Er bildet inzwischen einen Kernpfeiler unserer Coaching- und Workshop-Arbeit mit Startups aus den unterschiedlichsten Branchen.

Der Product-Market Fit Planner wird als Matrix mit vier Spalten visualisiert:

Die Spalte Problem-Solution Fit besteht aus drei Feldern:

  • Customer Needs: Hier stehen die Kundenbedürfnisse, die das Produkt befriedigen soll. Je intensiver diese Bedürfnisse sind, desto besser, da sie die Motivation zum Kaufen erhöhen.
  • Target Market: Hier steht die Beschreibung der Zielgruppe. Hat das Startup mehrere Zielgruppen, muss Product-Market Fit möglicherweise für jede Zielgruppe separat entwickelt werden.
  • Solution Concept: Hier steht eine kompakte Beschreibung des neuen Produktes. Zum Problem-Solution Fit gehört der Nachweis, dass die Zielgruppe diese neue Lösungsvariante attraktiv findet.

Problem-Solution Fit ist eine Voraussetzung für Product-Market Fit, und sollte bereits nachgewiesen worden sein, bevor die Arbeit am eigentlichen Product-Market Fit beginnt.

Die Spalte Customers enthält die zwei Felder Customer Benefits und Barriers to Adoption:

  • Customer Benefits: Hier werden die Kundenvorteile beschrieben, die die Zielgruppe durch das Produkt erhalten soll.
  • Barriers to Adoption: Hier ist Platz für alle Bedenken und Probleme, die die Zielgruppe gegenüber bzw. mit dem Produkt hat.

Die Spalte Product enthält Felder für zwei verschiedene Kategorien von Produktmerkmalen:

  • Key Features: Dies sind die Merkmale des Produktes, mit denen die Kundenvorteile im Feld Customer Benefits erzeugt werden sollen.
  • Required Capabilities: Dies sind die Eigenschaften, die das Produkt braucht, um die verschiedenen Barriers to Adoption bei der Zielgruppe zu reduzieren.

Die Spalte Kräftebilanz (Force Balance) ist durch eine Balkenwaage gekennzeichnet. Hier stehen Schätzungen für die treibende Kraft (Driving Force) und die bremsende Kraft (Restraining Force) in Bezug auf den aktuellen Stand der Produktentwicklung. Die Kräftebilanz funktioniert wie der Punktestand im Sport: Sie zeigt an, ob die Gründer das „Product-Market Fit-Spiel“ gerade gewinnen oder verlieren.

Anwendung des Planners

Get very, very close to your customers. Try to work in their office, if you can, and if not, talk to them several times a day. – Sam Altman

Der Product-Market Fit Planner ist als Poster im A0-Format gedacht. Die Gründer nutzen die Felder, um ihre Erkenntnisse aus der Kundenforschung und ihre Pläne für ihr Produkt zu organisieren. Die Farben Grün und Gelb werden verwendet, um zwischen validierten und noch nicht validierten Ideen und Produktmerkmalen zu unterscheiden:

Beispielhaft ausgefüllter Product-Market Fit Planner (zum Vergrößern anklicken).

Der Planner wird in Verbindung mit dem bekannten Build-Measure-Learn Zyklus eingesetzt, der hier in leicht abgewandelter Form dargestellt wird:

Der Ablauf besteht aus einem Vorbereitungsschritt und einer Schleife:

  1. Vorbereitung: Zunächst wird die Spalte Problem-Solution Fit ausgefüllt: Da Problem-Solution Fit vor Beginn der Product-Market Fit-Phase bereits abgeschlossen sein muss, sind diese Inhalte valide, und die Farbe Grün wird für sie verwendet.
    Im zweiten Vorbereitungsschritt werden alle weiteren Felder im Planner mit schon vorhandenen Erkenntnissen, Vermutungen und Ideen ergänzt. Da zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch nichts validiert worden ist, wird dafür Gelb benutzt.
  2. Lernziel wählen: Dies kann ein Explorationsziel sein, bei dem die Gründer unvoreingenommen versuchen, ihre zukünftigen Kunden besser kennenzulernen. Bei einem Validierungsziel überprüfen sie dagegen eine konkrete Hypothese, zum Beispiel: Die neue Capability X beseitigt die Barrier Y.
  3. Experiment durchführen: Nun wird ein Experiment durchgeführt, um das Lernziel zu erreichen. Die Komplexität reicht von einer schlichten Befragung bis zu einem aufwändigen Nutzertest mit einer neuen Produktfunktion.
  4. Planner aktualisieren: Neue Erkenntnisse aus dem Experiment werden in den Planner eingetragen. Validierte Ergebnisse erhalten die Farbe Grün, und neue, noch ungeprüfte Inhalte werden Gelb dargestellt. Nachweislich beseitigte Barrieren und misslungene Versuche werden aus dem Planner entfernt.
    Jetzt können die Schätzungen für die treibende und die bremsende Kraft aktualisiert werden. Eine Verschiebung der Kräftebilanz zugunsten der Driving Force signalisiert eine Verbesserung des Product-Market Fit.
  5. Neue Ideen ergänzen: Schließlich werden neue Ideen gesucht, um die noch nicht realisierten Kundenvorteile bereitzustellen und um die noch vorhandenen Barrieren zu reduzieren. Diese werden ebenfalls in den Planner eingetragen. Da neue Ideen zwangsläufig noch unbewiesen sind, wird die Farbe Gelb dafür verwendet.
    Danach beginnt die Schleife wieder bei Schritt 2.

Fazit

Product-Market Fit ist das wichtigste Ziel (manche sagen sogar, das einzige Ziel) für Startups in der Anfangsphase. Gründer, die diesen Schritt weglassen oder unvollständig durchführen, laufen große Gefahr, zu scheitern. Für Venture Capital-Geber ist der Nachweis von Product-Market Fit auch eine Voraussetzung für eine Investition.

Product-Market Fit ist kein Zustand, den man einmal erreichen und dann für immer vergessen kann. Vielmehr sollten Gründer immer bemüht sein, ihre Kunden noch besser zu verstehen und ihr Angebot auf deren Situation anzupassen. Denn Märkte und Kundenbedürfnisse ändern sich, und neue Trends und Technologien erfordern eine ständige Aktualisierung des Produktes, um den Vorsprung vor dem Wettbewerb zu wahren und um zu verhindern, dass der Fit wieder verloren geht.

Für ein Startup mit einem sehr innovativen Produkt kann die Suche nach Product-Market Fit viele Monate dauern. Die Dauer der Suchphase hängt entscheidend von der Bereitschaft der Gründer ab, sich intensiv mit ihrer Zielgruppe auseinanderzusetzen und von ihrer Fähigkeit, ihr Produkt schnell anzupassen.

Wenn der Product-Market Fit gut gelungen ist, müssen Gründer das Produkt nicht mühevoll in den Markt drücken, sondern der Markt wird es ihnen aus der Hand reißen. Das erleichtert die Kundenakquise enorm und ist die bestmögliche Voraussetzung für den Erfolg. In den Worten des US-Investors Andy Rachleff, der den Begriff Product-Market Fit erfunden hat:

If you address a market that really wants your product […] then you can screw up almost everything in the company and you will succeed. – Andy Rachleff

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Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Product-Market Fit Handbuch, das im Oktober bei Amazon als Kindle-Buch erschienen ist:

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Über Graham Horton

Graham Horton ist Professor für Informatik an der Universität Magdeburg und Mitgründer des Beratungsunternehmens Zephram. Er unterrichtet Startup-Kurse an der Universität, betreut dort Gründer-Teams und ist mit Workshops für Gründer viel unterwegs.

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