UX-Nachwuchs finden, ausbilden und übernehmen – Teil 1:Wie man ein UX-Trainee-Programm aufbaut und die richtigen Kandidaten dafür findet

Für UX-Berufseinsteiger gibt es zahlreiche Studiengänge und Weiterbildungskurse. Allerdings bringen Absolventen oft nicht das Wissen mit, das sie im Projektalltag benötigen. Die Agentur Aperto hat daher bereits vor einigen Jahren ein Trainee-Programm eingeführt. Wie die Bewerbung als UX-Trainee bei Aperto abläuft, worauf Mentoren während der Ausbildung achten müssen, und was nach der Übernahme wichtig ist, erläutert Stefan Freimark in dieser vierteiligen Serie. Nachmachen erwünscht!

Bevor ich erläutere, wie die Ausbildung im Rahmen eines Traineeships bei Aperto funktioniert, möchte ich zunächst eine Frage beantworten: Warum überhaupt ein Trainee-Programm? Für die Antwort darauf sind zwei Perspektiven wichtig: Die Sicht der Berufseinsteiger und die Unternehmenssicht.

Aus Sicht eines Berufseinsteigers gibt es grob gesagt zwei Möglichkeiten, um das Handwerkszeug für den Job zu lernen: Einerseits indem man sich autodidaktisch alles selbst aneignet, oder indem man es sich im Rahmen eines Studiengangs oder einer Weiterbildung beibringen lässt. Beides hat Nachteile: Das Selbststudium ist reine Theorie – Praxis gibt es nur in Form von Erzählungen (z.B. Vortragsmitschnitte auf YouTube oder durch den Besuch von Meetups). Außerdem gibt es bei eigenen Arbeiten keine Anleitung, es gibt keinen Erfahrungsaustausch, und es dauert ziemlich lang. Diese Nachteile gibt es beim zweiten Weg nicht: In Studiengängen oder Weiterbildungskursen lernen die Berufseinsteiger nicht nur theoretisches Wissen, sondern sie sammeln auch erste praktische Erfahrungen. Allerdings: Es ist teuer – entweder in Form von Zeit (mehrere Jahre für ein Studium) oder in Form von Geld (private Studiengänge und Kurse kosten mehrere Tausend Euro).

Angehende UX Designer haben nicht immer das Wissen, das sie bei uns benötigen

Zwar sammeln Studierende und Weiterbildungs-Teilnehmer praktische Erfahrungen in Form von Studienprojekten, aber den Absolventen fehlt Berufserfahrung! Studienprojekte sind nicht das selbe wie echte Kundenprojekte. Um ein paar Beispiele zu nennen, die so richtig nur in echten Projekten erfahren werden können:

  • Wie laufen Stakeholder-Workshops ab?
  • Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen?
  • Wie geht man mit technischen Implikationen um, wenn eine angedachte Lösung zu teuer oder zu komplex ist?
  • Wie geht man mit Kundenfeedback um? Was, wenn sich die Ansprechpartner auf Kundenseite nicht einig sind und es konkurrierendes Feedback gibt?
  • Wie mit mehreren Aufgaben gleichzeitig umgehen – also: Was wie priorisieren, und wo kann oder muss man pragmatisch sein?

Ein anderes Angebot – neben dem Selbststudium und dem bestehenden Studiengangs- und Kursangebot – muss für Berufseinsteiger mehr Vorteile als die beiden Alternativen bieten. Das heißt: Sowohl Theorie als auch Praxis, Berufserfahrung anhand echter Projekte, es sollte ein Gehalt geben und zeitlich überschaubar sein (ein Jahr). Wir denken, dass unser Ansatz für ein UX-Traineeship genau diese Vorteile bietet. Wie es genau funktioniert, darauf gehe ich im zweiten Teil dieser Serie ausführlich ein.

Für Unternehmen gibt es gute Gründe, ein Trainee-Programm anzubieten

Um es direkt zu sagen: Trainees sind keine billigen Arbeitskräfte! Wir stellen mit mehreren Maßnahmen sicher, dass wir Berufseinsteiger nicht als kostengünstige Aushilfen missbrauchen:

  • Trainees arbeiten nie alleine auf Projekten.
  • Es gibt eine 1:1-Betreuung, d.h. ein Mentor betreut einen Trainee.
  • Der Mentor nimmt sich Zeit, um jede Menge zu erklären.
  • Nur der Mentor darf Aufgaben an „seinen” Trainee delegieren.
  • Mentoren müssen delegierte Aufgaben zur Not selbst erledigen können.
  • Trainees sind nicht Teil des Ressourcen-Tetris (wobei das letztes Jahr auch für alle anderen abgeschafft wurde; dennoch verlassen wir uns in den Projektabläufen nicht darauf, auf Trainees „zugreifen” zu können).

Hier sind vier gute Gründe für ein Trainee-Programm.

  1. UX Designer sind rar. Wenn wir auf dem Markt kaum fertig ausgebildete Leute finden, müssen wir sie selbst ausbilden.
  2. Als Unternehmen haben wir eine gesellschaftliche Verantwortung. Wir können nicht erwarten fertig ausgebildete UXer zu finden, ohne selbst etwas dafür zu tun.
  3. Es ist sinnvoll für Seniors: Berufserfahrene geben gerne ihr Wissen weiter. Und sie haben die Möglichkeit, einfachere Aufgaben zu delegieren, so dass sie sich auf schwierigere Fragestellungen konzentrieren können.
  4. Absolventen von Studiengängen haben nicht immer das Wissen, dass sie bei uns benötigen – siehe oben.

Übrigens: Derzeit überarbeitet eine Kollegin aus unserer Personalabteilung das firmenweite Trainee-Programm – wahrscheinlich ist es im September 2019 soweit. Das firmenweite Programm wird dann den Rahmen für die Traineeships in den einzelnen Disziplinen vorgeben, um eine Vergleichbarkeit und gleichermaßen hohe Qualität sicherzustellen. Im Folgenden beziehe ich mich auf das UX-Traineeship und meine Erfahrungen damit (der künftige Rahmen basiert jedoch darauf).

Wir suchen Menschen mit Interesse an diesem Beruf

Wechseln wir die Perspektive und betrachten das UX-Traineeship aus Sicht des Mentors, und nicht mehr aus der Sicht des Berufseinsteigers. Aber wen meine ich eigentlich, wenn ich von „Berufseinsteigern” rede? Um mal ein Bild zu verwenden: Ein UX Designer auf Junior-Level hat einen kleinen Werkzeugkoffer mit einem Schraubendreher und einem Hammer. Wenn es Aufgaben gibt, für die ein Schraubendreher oder ein Hammer gefragt sind, können Juniors sie gut bewältigen. Aufgaben, für die Bohrmaschinen gebraucht werden, können sie unter Anleitung erledigen. Ein Berufseinsteiger bzw. ein Trainee hat noch keinen Werkzeugkoffer – aber er weiß, was ein Hammer ist: Den hat er mal im Schaufenster gesehen, und hat vielleicht auch mal im Laden einen in der Hand gehalten und Lust auf Mehr bekommen. Anders gesagt: Ein Junior wird bezahlt, um eigenständig einfachere Aufgaben ohne große Anleitung selbstständig zu erledigen. Ein Trainee wird bezahlt, um zu lernen.

Für das UX-Traineeship suchen wir also Leute die wissen dass es diesen Beruf gibt, die Interesse an User Experience haben und auch schon ein paar Grundlagen kennen, die bisher aber noch keine oder nur wenig praktische Erfahrung gesammelt haben.

Wo finden wir potentielle Trainees? Mögliche Interessenten für ein Traineeship sprechen wir entweder selbst an, zum Beispiel auf Meetups oder UX-Barcamps wie dem uxcamphh oder dem UXcamp Europe. Aber Interessenten kommen natürlich auch auf uns zu, z.B. wenn sie unsere Agentur im Rahmen einer Exkursion kennenlernen, Artikel von uns lesen, oder sich über unsere Website auf ein Stellenangebot bewerben.

Veranstaltungen wie das UXcamp Europe sind eine tollen Möglichkeit für potentielle Trainees und Mentoren, um einander kennenzulernen.

Man hat sich also beispielsweise auf einer Veranstaltung kennengelernt, und ein Senior hat nach einem Gespräch gesagt: „Schick doch mal eine Bewerbung rein.” Oder wir haben eine Bewerbung auf eine Stellenausschreibung bekommen. Wie auch immer: Wir haben Bewerbungsunterlagen, und achten nun auf ein paar Dinge:

  • Warum möchte diejenige oder derjenige UX Designer werden?
  • Ist erstes Fachwissen vorhanden?
  • Sind erste praktische UX-Erfahrungen vorhanden?
  • Gibt es andere Berufserfahrungen?
  • Hat er oder sie sich mit uns als Unternehmen beschäftigt?

Nicht so wichtig ist uns dagegen ein Portfolio, denn das kann ein Berufseinsteiger ja noch nicht haben. Was unserer Erfahrung nach ebenfalls keine große Rolle spielt, ist der (Hoch-) Schulabschluss oder eine bestimmte Berufsausbildung. Beides ist hilfreich, allerdings sind aus Soziologen, Amerikanisten und Facharbeitern für Offset-Drucktechnik sehr erfolgreiche Kolleginnen und Kollegen geworden, und ich selbst war in einem früheren Leben als Bankkaufmann tätig. Heutige Studiengänge sind zwar näher am Beruf als noch vor zehn Jahren, allerdings fehlt Absolventen wie erwähnt die Praxiserfahrung. Die beiden UX-Trainees die wir im Jahr 2018 ausgebildet haben, haben Medieninformatik mit HCI-Schwerpunkt studiert bzw. den UX-Kurs bei CareerFoundry absolviert, haben aber noch nicht mit UX-Methoden in einem entsprechenden Umfeld gearbeitet.

An die oben aufgelisteten Fragen schließt sich eine weitere Frage an: Ist der Bewerber tatsächlich Trainee? Oder schon Junior?

Wer bereits auf Junior-Level ist, muss natürlich nicht nochmal ein Traineeship durchlaufen – das wäre weder für den Bewerber noch für uns sinnvoll. Aber es gibt natürlich auch Grenzfälle, wie zum Beispiel: Weiß für einen Trainee schon viel, ist aber noch nicht Junior. Meistens machen wir es dann von den bisherigen praktischen Erfahrungen abhängig: Wer mehr praktische Erfahrungen hat, ist eher Junior. Das ist jedoch immer eine Einzelfallentscheidung, die von den beiden erfahrenen UXern diskutiert wird, die sich die Bewerbung ansehen.

Zum Ablauf des Vorstellungsgesprächs komme ich gleich, aber weil es thematisch hier gut rein passt: Wenn sich im Interview zeigt, dass ein Trainee-Bewerber eindeutig Junior ist und wir eine entsprechende Position haben, dann bieten wir diese Position an. Den umgekehrten Fall gibt es auch: Junior-Bewerber, die eindeutig noch auf Trainee-Level sind. Wir geben dann im Vorstellungsgespräch ehrliches Feedback und teilen unsere Einschätzung. Sofern wir gerade eine Trainee-Position zu besetzen haben, erzählen wir von den Eckpunkten unseres Trainee-Programms.

Im Vorstellungsgespräch finden wir die oder den Richtigen

In der Regel laden wir drei bis vier Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch ein. Es läuft so ab wie jedes andere Vorstellungsgespräch auch, allerdings schauen wir auch gemeinsam auf das Ergebnis einer Hausaufgabe. Diese Hausaufgabe versenden wir drei Tage vor dem Termin für das Vorstellungsgespräch an den jeweiligen Bewerber. Es handelt sich um eine fiktive Aufgabe, die in maximal drei Stunden bearbeitet werden soll. Und zwar tun wir so, als würde der Tierpark Chemnitz eine neue Website benötigen. Nicht dass dem so wäre – wir tun nur so. Es gibt ein kurzes Briefing („die verschiedenen Besuchergruppen sollen schnell die wichtigsten Informationen erhalten, und Ziel ist natürlich, mehr Menschen zu einem Zoobesuch zu animieren“) und eine kurze Aufgabenbeschreibung („wer könnten die Zielgruppen der Website sein und was soll diese ihren Besuchern bieten; was sind die wichtigsten Schwachstellen am jetzigen Auftritt; was ist gut gelöst und sollte beibehalten werden; wie könnte eine bessere Startseite aussehen“).

Die Hausaufgabe enthält ein Briefing auf einer A4-Seite (zum Vergrößern anklicken).

Einen Tierpark bzw. Zoo nehmen wir einerseits deswegen als Beispiel, weil wir derzeit keinen Zoo als Kunden haben (wir möchten keine Aufgabe aus einem echten Projekt stellen). Außerdem war jeder schon mal im Zoo – da fällt es leicht, sich hineinzuversetzen. Intern hatten wir vor einiger Zeit diskutiert, ob es nicht eine andere Projektart statt einer Website sein sollte, zum Beispiel eine App oder ein Service. Allerdings haben wir die Erfahrung gemacht, dass mit dieser Aufgabe bisher alle Bewerber sehr gut zurecht kamen – außerdem sind klassische Web-Projekte nach wie vor ein wichtiger Teil unseres Geschäfts.

An den Ergebnissen der Hausaufgabe erkennen wir eine ganze Menge:

  • Hat der Bewerber in der vorgegebenen Zeit gute Ergebnisse erarbeitet?
  • Wurden sinnvolle Lösungen gefunden, die zur Aufgabenstellung passen?
  • Ist der Bewerber eher ein strukturierter Denker oder eher ein werblicher Kreativkonzepter?
  • Kann er oder sie die eigenen Ideen stringent vermitteln?

Bei der Hausaufgabe geht es also weniger um die Lösung, sondern vielmehr um den Lösungsweg. Außerdem gibt sie uns – zusammen mit dem Gespräch – einen Eindruck zu einigen Interessen bzw. Haltungen des Bewerbers, die uns wichtig sind:

  • Grundlegendes Interesse am Beruf des UX Designers (hat z.B. schon relevante Artikel oder Bücher gelesen, kann grundlegende Begriffe wie Persona oder User Journey grob erklären)
  • Schnelle Auffassungsgabe
  • Lust auf Neues (Neugierde)
  • Lust am Lernen
  • Lust am Denken
  • Systemisches Denkvermögen (kann Zusammenhänge erkennen und in Zusammenhängen denken)
  • Abstraktes Denkvermögen (kann abstrakte Konzepte auf konkrete Situationen anwenden, oder von konkreten Situationen auf eine höhere Ebene abstrahieren)

Diese Interessen bzw. Haltungen sind nicht nur für das Traineeship wichtig, sondern für den Beruf des UX Designers an sich.

Das Vorstellungsgespräch vermittelt uns auch einen Eindruck von den sozialen Kompetenzen bzw. Soft Skills des Bewerbers:

  • Kann sich selbst reflektieren und aus Fehlern lernen
  • Problemlösungskompetenz (methodische Vorgehens- bzw. Arbeitsweise, analytische und strukturierte Denkweise, kann Probleme in kleinere Teilaufgaben zerlegen)
  • Kommunikationsfähigkeit (das gelingt auch Introvertierten; Extrovertierte sollten hingegen ihre Gesprächspartner nicht „an die Wand quatschen“)
  • Deutschkenntnisse (mündlich mindestens C1-Level)

Wir erwarten natürlich nicht, dass ein Trainee all dies perfekt beherrscht – tatsächlich sind auch Senior UX Designer mit zehn Jahren Erfahrung nicht am Ende ihrer Entwicklung angelangt, sondern können in neuen Konstellationen immer noch dazu lernen und besser werden. Worauf wir bei Bewerbern jedoch achten ist, ob sie diese Eigenschaften grundsätzlich mitbringen. Unserer Ansicht nach sind sie wichtige Voraussetzungen für die Arbeit als Konzepter bzw. UX Designer.

Erstmal nicht so wichtig sind Präsentationsskills oder tieferes Fach- und Methodenwissen. Das kann man lernen, bzw. mit den oben genannten Interessen und Haltungen kommt das mit der Zeit automatisch.

Im Verlauf oder gegen Ende des Gesprächs erzählen wir natürlich noch die Eckpunkte des Traineeships: Ablauf, Dauer, Gehalt (alle unsere Trainees verdienen das gleiche).

Wie der Ausbildungsplan aufgebaut ist, wie das Traineeship genau abläuft, und worauf Mentoren in der Ausbildung achten sollten, darum geht es in den nächsten beiden Teilen der Serie. Wenn Ihr Fragen habt, stellt sie gerne in den Kommentaren! Im vierten Teil geht es nicht nur um die Übernahme am Ende des Traineeships, sondern ich gehe auch auf Fragen ein.

Zum zweiten Teil →

Download

Wir freuen uns, wenn andere Unternehmen ebenfalls ein Programm für UX-Trainees auf dieser Basis anbieten. Damit ihr nicht bei Null anfangen müsst, findet ihr hier den Ausbildungsplan, die Hausaufgabe für Bewerber und die Übungsaufgaben zum Download: Materialpaket UX-Trainee-Programm (PDF & DOC, ca. 1MB)

Über dieses Thema habe ich 2018 auf drei Konferenzen gesprochen. Einen Screencast meines Konferenzvortrags – quasi das Audiobook – könnt ihr bei Vimeo ansehen/anhören.

Andere Teile dieser Serie

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Über Stefan Freimark

Stefan Freimark ist Associate Director für Experience und Service Design bei Aperto in Berlin. In über zehn Jahren als Konzepter in Digitalagenturen war er für Kunden aus unterschiedlichsten Branchen tätig: von der Automobilindustrie und Finanzdienstleister über Hochschulen, Gesundheitswesen und Medizintechnik bis zu Projekten für Bundesministerien und Bundesbehörden. Nebenbei hat er mehrere Jahre lang UX-Grundlagen an der Good School in Hamburg und in Googles Launchpad-Programm für Startups vermittelt, sowie vier Jahre lang das UXcamp Europe mitorganisiert.

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