Die Geschwindigkeit und Grundsätzlichkeit mit der sich die digitale Landschaft und Technologien ändern, nimmt von Minute zu Minute zu. Die Antwort vieler Unternehmen darauf war geprägt durch die Agile Transition, das Adoptieren agiler Workflows und die grundsätzliche Änderung des Produktentwicklungsprozesses.
Was ist aber, wenn diese Strategie heute alleine nicht mehr ausreichend ist, um mit der Veränderungsgeschwindigkeit mitzuhalten und dabei wettbewerbsfähig und innovativ zu bleiben? Was passiert eigentlich, nachdem sich eine Organisation mit einem agilen Product Management brüstet? Und worin liegt eigentlich die Zukunft der Organisationsentwicklung?
Aktuelle Herausforderungen des Product Managements
Die Antworten auf diese Fragen lassen sich finden, wenn man sich die aktuellen Herausforderungen des Product Managements genau anschaut. Und diese sind größer denn je.
Das Produkt wird komplexer
Die Möglichkeiten digitaler Produkte wachsen und die Produkte werden daraus folgend immer komplexer und größer – sie wachsen zu Produktplattformen heran. Ob neue Programmiersprachen, Machine Learning, Artifical Intelligence, Semantic Analysis und viele mehr, selbst vormals sehr einfache Produkte wie Content-Portale bleibt dieser Komplexitätszuwachs nicht erspart. Gerade im Product Management schlägt sich dies in exponentiell steigende fachliche Anforderungen an das Skillset des Teams nieder.
Audience und Nutzerschaft werden immer größer und fragmentierter
Digitale Produkte konkurrieren heutzutage in der Regel nicht mehr nur in einzelnen Ländern, sondern weltweit. Die potentielle Nutzerschaft, die es zu erreichen, aber auch zu verstehen gilt, wird immer größer. Und sie wird nicht nur größer, sondern auch differenzierter. Diese Nutzer zu verstehen und deren Bedürfnisse zu kennen, wird somit jeden Tag schwerer.
Alles ist Produkt, alles gehört zum Produkt
Eine Erkenntnis, die sich in den letzten Jahren immer stärker durchgesetzt hat, ist, dass alles, was ein Unternehmen tut, zum Produkterlebnis und damit zum Produkt gehört. Man kann das Produkt nicht mehr von den anderen Disziplinen wie Marketing, Sales, Support etc. trennen, denn für den Nutzer bilden alle diese Bereiche die gesamtheitliche Produkterfahrung und so müssen sie auch ganzheitlich koordiniert werden.
Länger werdende Kommunikationsketten führen zu Defiziten
Ein großer Nachteil dieser größer werdenden Komplexität von Produkten und der wachsenden Zahl an Stakeholdern ist, dass die Kommunikationsketten immer länger werden. Hierdurch besteht jedoch die Gefahr, dass zu viele Informationen in den Ketten verloren gehen oder fälschlicherweise abgeändert werden.
Der Fokus liegt nur auf “Product People”
Die wahrscheinlich größte Herausforderung des Product Managements ist wohl, dass die Disziplin an sich nur auf die klassische Rolle des Product Managers und Product Owners zielt. Da jedoch immer mehr Bereiche zum Produkt gehören, steigen auch die Anforderungen an das Produktteam in einer Organisation an.
Auf der Suche nach den Product Avengers
Was heißt das aber für die Rolle des Produktteams? Im agilen Produktentwicklungsprozessen wird oftmals von dem Product Owner als Bottleneck geredet. Der PO hat die Rolle das Team zu schützen, die Anforderungen der Stakeholder abzuholen und in Produktanforderungen zu übersetzen. Er ist der Vision Keeper und der Einzige, der die kompletten Produktprozesse im Blick hat.
Wenn man nun auf die Herausforderungen des Product Managements schaut und die Rolle des Product Owners danebenlegt, stellt man fest, dass eigentlich ein Superhelden Team gefordert ist: die Avengers des Product Managements. Aber so beliebt die Marvel Comic-Helden auch sind, solch ein Team mit Superkräften gibt es leider nicht. Das heißt jedoch nicht, dass die Herausforderungen nicht lösbar sind. Denn hier kommt das „Shared Product Mindset“ ins Spiel.
Das “Shared Product Mindset”
Das „Shared Product Mindset“ ist ein Ansatz, wie Product Management & Produktprozesse in einer Organisation gelebt und organisiert werden sollten, um den aktuellen Herausforderungen entgegenzutreten. Es ist der nächste logische und nötige Schritt in der agilen Transition einer Organisation: die Evolution des agilen Product Managements hin zu einer produkt- und innovatons-getriebenen Organisation. Nur wenn die gesamte Organisation, jedes Team und jeder Kollege ein Product Mindset dafür entwickelt, was sie täglich tun und kreieren, kann das wirkliche Innovationspotential einer Organisation gehoben werden. Das heißt aber nicht, dass Product Manager oder Product Owner in ihrer Rolle beschnitten werden. Nein, es bedeutet viel mehr, dass ihr Rolle noch grundsätzlicher aber auch diversifizierter ist als jemals zuvor.
Die 8 Grundprinzipien des „Shared Product Mindsets“.
1. Alles, was wir tun, ist Teil der Produkterfahrung
Resultierend aus der Idee, dass alles zum Produkt gehört, muss in der Organisation die Erkenntnis reifen, dass alle Aktivitäten Teil der Produkterfahrung sind und eng abgestimmt werden müssen. Kein Bereich kann sich der Verantwortung entziehen, an der Produkterfahrung beteiligt zu sein – mal mehr, mal weniger, aber immer beteiligt.
2. Jedes Team, jeder Bereich verantwortet einen Teil der Produkterfahrung
Wenn nun also alles, was in der Organisation passiert, zur ganzheitlichen Produkterfahrung gehört, dann ist es nur folgerichtig, wenn auch jedes Team, jede Abteilung, jeder Bereich innerhalb der Firma ein Teil dieser Produkterfahrung owned und dafür verantwortlich ist. Audience Development owned die Marketingkanäle und nutzerzentrischen Datenströme, Sales owned die Monetarisierung des Produkts, der Support owned die Feedback-Kanäle usw. usf.
3. Alle Teams und Bereiche sind in den Produktentwicklungsprozess involviert
Wenn jedes Team ein Teil der Produktplattform owned, folgt daraus eine noch viel größere Änderung: Alle Teams müssen dann auch aktiv in die Produktprozesse eingebunden sein. Das klassische Bottleneck “Product Owner” zwischen den Stakeholdern und der Produktentwicklung fällt weg. Ein integrierter Prozess ist notwendig, bei dem die Teams und Einzelpersonen genau dann in den Produktentwicklungsprozess involviert werden, wenn es notwendig ist. Die verschiedenen Teams können selbstständig User Stories ausarbeiten und verfassen. Cross-funktionale Projektteams können ebenso ein Ansatz in diese Richtung sein, es gilt hier aber immer den ganzen Produktentwicklungsprozess abzubilden: von der Ideenfindung über den Produkt-Rollout bis hin zur nachträglichen Erfolgsanalyse und Optimierung.
4. Die neue Rolle des Product Managers: Ganzheitlicher Blick, Anleitung und Enabling
Die Frage, die ich an dieser Stelle immer wieder höre: Was ist aber dann noch die Rolle des Product Managers / Owners in solch einer Organisation? Die Antwort ist einfach: die Rolle ändert sich drastisch. Anstatt als Mittler und Gatekeeper zwischen der Entwicklung und allen anderen zu stehen, muss er die Zusammenarbeit aller fördern. Er muss die verschiedenen Teams enablen und anleiten, einen Teil der Produktplattform zu ownen. Und er muss noch viel stärker einen gesamtheitlichen Blick auf die Produkterfahrung haben und den roten Faden in der Produktplattform verfolgen. Denn ein Produkt wird eben auch nur dann erfolgreich, wenn alle Bestandteile abgestimmt und effizient ineinandergreifen.
5. Das neue Profil für Produkt-Teams: diversifizierte Fähigkeiten
Aus dieser neuen Rolle ergibt sich zudem ein neues Profil des Produkt-Teams. In der Vergangenheit wurde insbesondere auf die fachlichen Qualifikationen Wert gelegt, “Produktentwicklungsprozesse zu steuern” und “Bedürfnisse in Produktanforderungen zu übersetzen”. Diese Qualifikation ist natürlich nicht minder wichtig, jedoch ist im Rahmen des Shared Product Mindsets auch gefordert, dass das Team die fachlichen Bereiche der Firma so breit wie möglich abdecken kann: ein diversifiziertes Produkt-Team, welches sich idealerweise in Teilen sogar aus Personen der anderen Unternehmensbereiche selbst zusammensetzt.
6. Es gibt mehr Innovation als man denkt
Leider wird Innovation in vielen Unternehmen falsch verstanden. Es wird oftmals nur nach dem “next big thing” gesucht, der Nadel im Heuhaufen. Innovation ist aber mehr als das. Innovation kommt von den lateinischen Wörtern “novus” und “innovatio” und heißt übersetzt “Neuheit”. Innovation sind demnach im Unternehmenskontext neuartige Ideen, die kommerziell genutzt werden. Und da Neuheit immer nur im Kontext der Organisation betrachtet werden kann, sind alle Ideen, alle Änderungen in einer Organisation eine Innovation. Mal radikaler, mal inkrementeller. Mal in Bezug auf Produkte, mal Prozesse, mal Dienstleistungen. Wenn man diese Definition von Innovation anwendet wird klar, eine innovations-getriebene Organisation zu werden heißt, eine ideen-getriebene Organisation zu werden.
7. Ein „Shared Product Mindset“ erfordert eine von allen geteilte Vision
Dieses Grundprinzip sollte eigentlich in keiner Organisation je zur Debatte stehen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, diesen Punkt noch einmal zu forcieren: Nur wenn alle Kollegen in der Organisation die Vision und die Strategie kennen, und diese zudem selbst auch mitbestimmen können, besteht die Chance erfolgreiche und integrierte Produkte zu entwickeln. Alles andere führt nur zu einer unkoordinierten Produktplattform, bei der die Einzelteile vielleicht sinnvoll, die Plattform als Ganzes jedoch nicht maximal bedürfnisbefriedigend für die Nutzerschaft ist.
8. Unternehmenskultur entwickelt sich immer weiter, basierend auf Transparenz, Verantwortung und Enablement
Zu guter Letzt sei gesagt, dass die agile Transition einer Firma nie vollständig und abgeschlossen sein wird, wie das Wort “Transition” fälschlicherweise suggeriert. Auf Basis von Werten wie Transparenz, Verantwortung und Enablement muss sich eine Organisation ständig erneuern und auf die geänderten Rahmenbedingungen reagieren. Was heute noch ein Wettbewerbsvorteil ist, kann morgen schon wieder antiquiert sein.
Und jetzt?
Das „Shared Product Mindset“ stellt selbstverständlich nur einen nächsten Schritt in der agilen Transition dar. Auch in vielen anderen Bereichen der Organisation sieht man disruptive Bestrebungen, die das Wesen einer Organisation grundlegend verändern werden. Daher ist eine dogmatische Verfolgung einzelner Konzepte wie z.B. das „Shared Product Mindset“ nicht zielführend.
Jede Organisation ist anders und hat andere Rahmenbedingungen, die es zu beachten gilt. Und so ist auch jeder Weg hin zu einem „Shared Product Mindset“ von anderen Meilensteinen geprägt. Ein How-to oder eine Schritt-für-Schritt Anleitung gibt es nicht. So lange man jedoch die Grundprinzipien verfolgt, ist jede Änderung in einer Organisation eine Änderung zum Besseren.