Die Geheimnisse exponentiellen Wachstums… wer würde die nicht gerne kennen? Im ersten Teil unserer Serie haben wir Euch gezeigt, was „Growth“ überhaupt ist, aber vor allem auch was es nicht ist. Gehen wir also gleich ans Eingemachte!
Viele leere Versprechungen
Es gibt unzählige Artikel mit Titeln wie „Von 0 auf 100.000$ in nur 4 Wochen“. Wir sollten beim Lesen nicht vergessen, dass ihr einziger Zweck darin besteht, mehr Traffic für den Blog zu generieren auf welchem sie veröffentlicht worden sind. Ich weiß nicht wer von Euch diese Sachen mal ausprobiert hat, ich hab es jedenfalls getan. Das Ergebnis dieser tollen Tipps war allerdings in der Realität selten mehr als mittelmäßig, wenn überhaupt messbar. Die ganzen Versprechen von „Silver Bullets”, „Low Hanging Fruits” oder „Quick Wins” sind leider nicht real! Es gibt sie nicht. Natürlich gibt es hin und wieder mal eine kleine Änderung, die Großes bewirken kann. Abgucken bei Anderen funktioniert aber so gut wie nie. Eigentlich sind die Gründe klar und einleuchtend, unsere Kunden sind anders, unser Produkt ist anders, unser Geschäftsmodell ist ein Anderes… und trotzdem tappen wir immer wieder in die Falle – die Verlockung ist einfach zu groß. Doch was führt nun wirklich zum exponentiellen Wachstum?
Tipp #1: Ohne echten Kundennutzen, kein Wachstum
Wahrscheinlich geht es Euch wie mir… diese Platitüden befähigen uns selten zum Handeln. Aber leider kommen wir nicht drumherum. Keine Wachstumsinitiative dieser Welt wird ein Produkt ohne Mehrwert zum Wachsen bringen!
„You can’t sustainably grow something that sucks.”
In der Realität ist es oft nicht so einfach zu wissen, ob dein Produkt wirklich funktioniert. Die Antwort der Growth Experten ist dabei verhältnismäßig einfach, wie auch einstimmig: Retention. Wenn eure Nutzer regelmäßig zurückkehren, mit Emails und Push-Notifications interagieren, wisst ihr dass das Produkt funktioniert.
Wenn ihr also noch keine Indikation für wahren Kundennutzen habt, startet damit. Eine Investition in Wachstum wäre in dieser frühen Phase vertane Liebesmüh.
Tipp #2: Sprache – massiv unterschätzt
In diesem Kontext hat die Sprache, das Messaging, zwei bedeutende Auswirkungen:
- Auswirkungen auf die Produktentwicklung
- Auswirkungen auf die Verbreitung
Sprache definiert ein Produkt. Denkt z.B. an „Fotos teilen” und „Fotos speichern”. Prinzipiell weisen die Ausdrücke auf ein ähnliches Feature hin: Zum Teilen muss ich irgendwie das Foto speichern, damit ein Nutzer später diese Foto auch anschauen kann. Auch der Weg vom Speichern zum Teilen erscheint nicht weit. Doch kann eine so kleine Nuance zu dramatisch anderen Produkten führen: Aus „Teilen” wird Facebook oder Instagram. Aus Speichern Dropbox.
Sprache hat selbstverständlich einen dramatischen Einfluss auf Mund-zu-Mund Propaganda und virale Verbreitung. Welche Geschichte können Nutzer oder Kunden erzählen, wenn sie anderen erklären, warum sie euer Produkt lieben? An dieser Stelle geht es um die Beschreibung der wahren Ursache warum ein Nutzer ein Produkt nutzt, nicht um ein hochglanzpoliertes Wertversprechen! Entscheidend ist, dem Nutzer eine einfache, stimmige und überzeugende Geschichte oder Phrase an die Hand zu geben. Dabei sollten wir auch auf die Worte unserer Kunden und Nutzer hören. Es soll schließlich authentisch sein.
Es lohnt sich also, sich permanent mit der Beschreibung des eigenen Produktes oder den Geschichten um das Produkt herum zu beschäftigen. Ein schönes Beispiel gibt es von Twitter:
Als Conan O’Brien im Januar 2010 seinen Job in der Tonight Show verlor, bewarb er über Twitter seine bevorstehende Stand-Up Comedy Tour. Aus Betreibersicht gibt es zwei Wege diese Geschichte zu verbreiten. Twitter könnte sagen: „Conan O’Brien ausverkaufte Tour mit nur einem Tweet.” oder sie könnten sagen: „Wären Sie auf Twitter gewesen, als Conan O’Brien seine Tour bewarb, hätten auch Sie sich Tickets der Tour sichern können, bevor diese ausverkauft war.” Für potentielle Nutzer ist die zweite Geschichte viel interessanter. Die Wenigsten von uns kommen in die Verlegenheit, unsere eigene Tour ausverkaufen zu müssen. Dagegen spielt die zweite Geschichte mit unseren Emotionen. Wir haben schon etwas verpasst und selbstverständlich wollen wir verhindern, dass dies nochmal passiert. FOMO (fear of missing out) ist ein grosser Einflussfaktor auf unser Verhalten.
Tipp #3: User Onboarding ist elementar
Dieser Begriff ist aus dem Phasenmodell von Josh Elman (Ex-Facebook, Twitter, LinkedIn). Der Begriff beschreibt alles was der Nutzer sieht und erlebt, sobald er vor unsere Schaufenster tritt. Auch hier spielt Sprache wieder eine Rolle. Der potentielle Nutzer ist interessiert, aber wir müssen ihm immer noch das Produkt schmackhaft und ihn vor allem glücklich machen, sobald er mit der Nutzung startet.
Hier wird häufig viel zu wenig Energie investiert. James Currier empfiehlt 50% des Produktentwicklungsaufwandes in das User Onboarding zu investieren. Dabei kommt es auf eine Sache an: Der Benutzer sollte das Produkt nicht verlassen, ohne Aktionen durchgeführt zu haben die (nahezu) garantieren, dass er wieder zurückkehrt.
Es ist entscheidend, dass der Nutzer diese Aktion durchführt! Erklären allein hilft nichts. Selbstverständlich muss er verstehen, warum er etwas tun soll und wie das jeweilige Feature funktioniert. Wir lernen viel besser durch learning-by-doing. Ausserdem bedeutet dies, dass der Nutzer bereits etwas in das Produkt „investiert” hat, nämlich seine Zeit. Wer das Buch Influence von Robert Cialdini kennt, weiss dass Menschen dazu tendieren sich konsistent mit ihren vorherigen Entscheidungen zu verhalten.
Onboarding endet übrigens nie. Jede neue Funktion erfordert eventuell ein eigenes Onboarding. Dabei sollten wir uns darüber Gedanken machen, wie wir unseren Nutzern die Funktionsweise unserer neuen Funktion in einem natürlichen Prozess näher beibringen können. Ein Paradebeispiel dafür ist Facebooks Photo Tagging. Es ist fast unmöglich, der Versuchung zu widerstehen und ein Foto, auf dem wir markiert wurden, nicht anzusehen. Wenn wir die Nachricht erhalten, wir seien auf einem Foto markiert worden, wissen wir schonmal, dass es dieses Feature gibt. Auf diesem Wege zeigt uns Facebook einfach, dass es diese Funktion jetzt gibt, ohne unsere Nutzung anderweitig negativ zu beeinflussen.
Tipp #4: Die Psychologie deiner Nutzer verstehen
Wir haben schon gesehen, dass viele der o.g. Maßnahmen auf der Psychologie unserer Nutzer aufsetzen (FOMO, der Drang zur Konsistenz, der Drang sich ein Foto anzuschauen auf dem ich markiert wurde). All diese Dinge können wir einsetzen, um Nutzer zu bestimmten Aktionen zu bewegen. Doch wissen wir wirklich warum sie in unserem Produkt bleiben? Was das Bedürfnis in ihnen verursacht, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen? Wie bewegen wir sie dazu, die Dinge zu tun, die wir von Ihnen erwarten? Gleichzeitig müssen wir natürlich sicherstellen, dass die Nutzer auch einen Wert aus dieser Aktion ziehen.
All dies zu verstehen, ist enorm wichtig und die eigentliche Quintessenz des Wachstums. Nur mit diesem Wissen kann ich Produkte so bauen und aufstellen, dass sie sich scheinbar magisch von selbst verbreiten. Nur dieses Verständnis hilft mir, die richtigen Worte zu wählen: Eine einfache, überzeugende Ansprache welche direkt das Bedürfnis eines Benutzers anspricht. Im Prinzip geht es darum, seine aktivsten Nutzer zu identifizieren und zu verstehen, was und aus welche Aktionen sie ihren Mehrwert ziehen. Mit diesem Wissen geht es dann daran, diese Benutzer sozusagen zu „klonen”. Der grosse Vorteil dieses Vorgehens ist, dass man das Produkt simpel halten kann und nicht mit Funktionen überladen muss, um jedem Nutzer ein bisschen gefallen zu können. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass es Netzwerkeffekte geben muss bzw. Viralität erforderlich ist, um dies umzusetzen.
Prinzipien der Viralität
Viralität – der heilige Gral… Über dieses Thema kann man komplette Bücher schreiben. Auch ist der Begriff inzwischen in so vielen Kontexten genutzt worden, dass ich hier einfach nur über exponentielles Wachstum sprechen möchte. Ob es sich um lustige Katzenvideos handelt, das Verschicken von Emails, Teilen von Dateien oder auch die verbale Kommunikation im Eins-zu-Eins-Gespräch ist dabei unerheblich. Grundsätzlich basiert alles auf den gleichen Prinzipien:
- Sie lassen mich, als „Einlader” gut aussehen.
- Mein Nutzen aus dem Produkt wächst mit jedem der hinzu kommt.
- Der Empfänger erhält ebenfalls einen Nutzen, sobald er dazu stösst.
Übrigens ist der egoistische Antrieb hier enorm wichtig! Menschen tun (fast) nichts aus rein altruistischer Motivation heraus. Sie erhoffen sich immer einen Vorteil davon. Ein sehr wichtiges Prinzip, welches gar kein schlechtes Menschenbild zeichnen soll. Zwei Beispiele:
LinkedIn Endorsements
Mit einem einzigen Klick kann ich Menschen ein Kompliment machen. Für mich ist es wenig Aufwand und ich gebe Ihnen ein gutes Gefühl. Dies gibt im Übrigen mir das Gefühl etwas Gutes getan zu haben.
Die Genialität des Dropbox Referral-Programms
Das beste und wohl bekannteste Referral Programm hat Dropbox entwickelt. Es ist eigentlich relativ einfach: Wenn ich jemanden zu Dropbox einlade und derjenige annimmt, bekomme ich mehr Speicherplatz, genauso wie er oder sie. Wozu führt dies nun? Ich lade noch mehr Dateien in meine Dropbox, was zu noch mehr Möglichkeiten führt, mehr Leute einzuladen bzw. Dateien mit ihnen zu teilen. Die Genialität diese Programmes liegt darin, dass je mehr ich erfolgreich einlade, desto mehr nutze ich das Produkt und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch mehr Menschen einlade. Dropbox hat es geschafft, aktive Nutzer noch aktiver zu machen und den Einladungsvorgang zum Kern ihres Produktes gemacht – das Teilen von Dokumenten, Fotos, etc.
Das macht auch Sinn. Wem würdet ihr mehr trauen: Einem wirklich aktiven Nutzer oder jemandem der ein Produkt gerade erst ausprobiert. Auf letzteren Mechanismus setzen im Übrigen viele Produkte, die teilweise sehr schnell wachsen aber auch oft genauso schnell wieder von der Bildfläche verschwinden.
Tipp #5: Conversion-Optimierung
Zum Schluss das vermutlich Unspektakulärste an der gesamten Arbeit, aber genau so wichtig, wie der Rest: Wenn das Produkt bereits gut funktioniert (Indikatoren dafür siehe oben) geht es darum, alles aus dem Weg zu räumen, was einem Nutzer auf dem Weg zu seinem Ziel in die Quere kommt. Die guten Nachrichten sind, dass es hier normalerweise ein paar einfache, erste Dinge zu tun gibt. Typischerweise sind diese dort zu finden, wo der Erfolg und damit der Hebel bereits heute existiert. Ein guter Tipp ist also dort zu beginnen, wo bereits vieles passiert, der meiste Traffic oder die besten User herkommen. An diesen Punkten finden sich oft relativ einfach zu behebende Ursachen für Abbrüche. Aufgrund des bereits hohen Nutzervolumens stellen Verbesserungen an diesen Stellen einen grossen Hebel dar. Grundsätzlich sind die Möglichkeiten für Verbesserungen fast endlos. Hier ist also Durchaltevermögen gefragt.
„The only thing i have done is to focus on one metric for longer than most people are emotionally prepared to”
Fazit
Einige von Euch mögen jetzt vielleicht enttäuscht sein, dass ich nur wenig über konkrete Maßnahmen und Taktiken gesprochen habe. Das liegt daran, dass diese niemandem etwas nützen. Diese Artikel gibt es bereits zuhauf und sie versprechen etwas, was sie nicht halten können. Statt dessen kommt es viel mehr auf zwei Dinge an: Mindset und Prozess.
Wenn ihr Euch die Dinge oben zu Herzen nehmt, habt ihr schon das richtige Mindset, fehlt noch der Prozess… Den holen wir beim nächsten Mal nach.
Weitere Artikel in unserer Growth-Serie
Teil 1: Was ist Growth eigentlich?
Teil 2: 5 Tipps wie ihr euer Wachstum wirklich ankurbeln könnt
Teil 3: Tagesgeschäft eines Growth Teams: Prozesse & Tools
Teil 4: Get ready: Stolpersteine + 3 Tipps zum Start