Seit Melissa Perris populärem Vortrag aus dem Jahr 2017, ist die “Build Trap” ein Begriff in der Produktszene. Das kurz darauf angekündigte Buch Escaping the Build Trap: How Effective Product Management Creates Real Value wurde denn auch von vielen mit Spannung erwartet – u. a. von den Autoren dieser Rezension. Es hat ein Weilchen gedauert: Am Ende hat Melissa Perri drei Jahre gebraucht, um das Buch fertigzustellen. Nach eigenen Angaben hat sie das das Manuskript in dieser Zeit viermal komplett umgeschrieben. Ob sich die Mühe gelohnt hat, möchten wir in unserer Rezension klären.
Mit dem Begriff der „Build Trap“ bezeichnet Melissa eine Misere, in der sich die (digitale) Produktentwicklung vieler Unternehmen befindet: Getrieben durch Management und Markt wird Feature auf Feature produziert, ohne dass der Mehrwert für den Kunden und das eigene Unternehmen hinreichend geklärt worden ist [1]. Die Menge des Outputs wird zum entscheidenden Gradmesser des Erfolgs. Die erzielte Wirkung dagegen wird zur Glückssache. Irrelevante oder verbesserungsbedürftige Produktanteile schmälern auf Dauer den Produkterfolg.
Ursprünglich richtete Melissa Perri ihr Buch vor allem an Produktmanager. In ihrer eigenen Beratungstätigkeit musste sie allerdings erfahren, dass es nicht ausreicht, die Produktmanager zu coachen. Das gesamte Unternehmen muss sich verändern. Also erweiterte sie ihr Buch um Themen, die die Organisation als ganzes betrachten (z. B. die Unternehmensstrategie). Damit dieser „Rundumschlag“ für den Leser trotzdem leicht verdaulich bleibt, bindet sie die verschiedenen Themen in eine fiktive Rahmenhandlung ein: Die Geschichte des Unternehmens Marquetly, das den Erfolg seiner digitalen Lernplattform verbessern will. Anhand von Marquetly demonstriert sie immer wieder mit griffigen, gut nachvollziehbaren Beispielen die Konzepte des Buches [2]. Zusätzlich greift sie auf konkrete Beispiele aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz und auf bekannte Beispiele der Digitalszene (wie Netflix) zurück.
Das Buch richtet sich zuvorderst an Produktmanager und ihre Führungskräfte, die eine konsequent kunden- und wertorientierte Produktentwicklung in ihrem Unternehmen etablieren wollen. Melissa Perri nennt das „produktgeleitete Organisationen“ (Englisch „product-led organization“). Das Buch liefert in leichtgewichtiger Form den Entwurf eines kompletten Frameworks für Produktorganisationen. Für angehende oder neue Produktmanager ist das Buch ein hervorragender Überblick über die Aufgaben und Herausforderungen, die die Rolle des Produktmanagers ausmachen.
Darüber hinaus ist “Escaping the Build Trap” für jeden interessant, der sich mit den Prinzipien produktgeleiteter Organisationen vertraut machen möchte. Es gibt kaum Anforderungen an das Vorwissen, so dass die Inhalte auch für fachfremde Leser gut zugänglich sind. Das macht das Buch zu einem hervorragenden Vehikel, um z. B. die Entscheider im eigenen Unternehmen für moderne Produktmanagementprozesse zu gewinnen.
Auch wer bereits größere Teile der einschlägigen Literatur wie z. B. „Lean UX“ bzw. „Sense And Respond“ von Jeff Gotthelf und Josh Seiden oder „Inspired“ von Marty Cagan gelesen hat, kann durch Melissa Perris Buch noch einige wertvolle Impulse erhalten (vgl. den nächsten Abschnitt mit der Inhaltsübersicht). Fundamental Neues wird ihm dann allerdings nicht begegnen.
Was man im Buch „Escaping the Build Trap“ lernt
Das Buch besteht aus fünf Hauptteilen, durch die sich als roter Faden die Schilderung des Veränderungsprozesses beim fiktiven Unternehmen „Marquetly“ zieht.
Teil 1: „The Build Trap“
Der erste Teil betrachtet die Umstände, die Unternehmen in die Misere der Build Trap treiben, sowie die negativen Auswirkungen, die eine Fokussierung auf den Output hat. Dem gegenübergestellt wird das Konzept des Wertaustausches zwischen Unternehmen und Kunden („Value Exchange System“), das eine explorative, wertorientierte Art der Produktentwicklung begründet.
Teil 2: The Role of the Product Manager
Der zweite Teil diskutiert die Rolle des Produktmanagers:
- Was sind Stereotypen schlechter Produktmanager?
- Was macht einen guten Produktmanager aus? Was sind seine Aufgaben? Welche Kompetenzen und Haltungen benötigt er, um erfolgreich zu sein?
- Wie sieht der Karrierepfad eines Produktmanagers aus? In diesem Kapitel definiert Melissa die komplette Rollenhierarchie einer Produktorganisation vom “Associate Product Manager” (Einsteiger) bis zum “Chief Product Officer (CPO)“ (Mitglied der Geschäftsführung). Das Modell ist stark amerikanisch geprägt. Melissa beschreibt die Aufgaben der jeweiligen Rolle aber so detailliert, dass eine Übersetzung auf Unternehmen mit anderen Strukturen leicht fallen sollte.
- Wie sollten Produktteams organisiert werden? Melissa plädiert für eine Ausrichtung an den “Wertströmen” (Englisch value streams) des Unternehmens statt z. B. an Produktfeatures oder Kontaktkanälen. Außerdem reflektiert sie darüber, ob Teams zwangsläufig einem festen Anteil des Produktes zugeordnet werden müssen. Gerade bei knappen Ressourcen könnte eine flexiblere Zuordnung effizienter sein, stellt allerdings hohe Ansprüche an die Teams.
Teil 3: Strategy
Teilautonome Produktteams, die selbstständig Problem- und Lösungsraume explorieren, brauchen einen Entscheidungsrahmen, um im Sinne des Unternehmens agieren zu können. Notwendige Grundlage für diesen Entscheidungsrahmen ist eine solide Unternehmensstrategie. Im Umkehrschluss bedeutet dies (zumindest ab einer gewissen Unternehmensgröße), dass kein erfolgreiches produktgeleitetes Unternehmen ohne gute Prozesse für Entwicklung und Ausrollen der Unternehmensstrategie auskommt.
Melissa Perri widmet daher immerhin ein Fünftel des Buches diesem Thema. Aufgrund der Vielschichtigkeit kann sie trotzdem viele interessante Konzepte nur anreißen. Ein Highlight in diesem Teil des Buches war für uns ihr Bausteinkonzept für das Herunterbrechen der Strategie auf einzelne Produktteams. Die von ihr skizzierte Hierarchie aus (Unternehmens-)Vision, Strategic Intent, Product Initiative und Option bietet eine interessante, praxis-orientierte Systematik.
Teil 4: Produktmanagement-Prozess
Anhand einer Produktinitiative bei Marquetly demonstriert Melissa Perri ganz konkret wie Produktmanagementprozesse aussehen, wenn ein Produktteam explorativ vorgeht statt einfach ein vorgegebenes Feature zu bauen. Sehr eingängig schildert sie, wie das Team die Ausgangslage analysiert und sich langsam an das eigentliche Problem heran „experimentiert“, um dann mit weiteren Experimenten zu einer effizienten Lösung zu kommen. Dadurch dass die Schilderung mit konkretem Zahlenmaterial aufwartet, sind die Beispiele sehr plastisch, der wirtschaftliche Impact der Maßnahmen wird gut nachvollziehbar. Themen sind u. a.:
- die „Produkt Kata“, ein von Melissa Perri erdachter Prozess zur Umsetzung der Unternehmensstrategie anhand konkreter Produktinitiativen. Die Einführung des neuen Begriffes „Produkt Kata“ scheint vor allem didaktischen Wert zu haben, bietet ansonsten aber nicht viel Neues.
- der richtige Umgang mit Produktmetriken.
- Einige Überlegungen und Tipps zum Vorgehen bei User Research und Prototyping.
Teil 5: The product-led organization
Der letzte Teil des Buches betrachtet kurz und in vielen Aspekten eher oberflächlich die Gesamtorganisation. Melissa benennt wesentliche Elemente traditioneller Unternehmen, die sich für einen Übergang zur produktgeleiteten Organisation ändern müssen. Des weiteren gibt sie Empfehlungen zum Aufbau neuer Strukturen und Prozesse. Die meisten Themen werden dabei nur kurz angerissen:
- Offene Kommunikation und Regelmeetings des Produktmanagements
- Budgetierung
- Incentivierung
- Roadmap-Planung
- Fehlerkultur
- Kundenzentrierung
- Aufbau einer Einheit für Product Operations
Eine zentrale Botschaft des Kapitels: Die Veränderung funktioniert nur mit hundertprozentigem Engagement des Managements. Das bedeutet allerdings auch, dass die Produktteams alles dafür tun sollten, das Management möglichst eng einzubinden.
Unser persönliches Urteil
Unser Urteil schwankt zwischen „Empfehlenswert mit einigen Schwächen“ (Achim) und „Absolute Empfehlung” (Daniel). Wir haben uns daher entschieden unser Urteil aufzuspalten:
Empfehlenswert mit einigen Schwächen (Achim)
Ich kann das Buch jedem empfehlen, der sich auf leicht zugängliche Weise in die Rolle und Aufgaben eines Produktmanagers und die Gestaltung einer kunden- und wertorientierten Organisation einführen lassen möchte. Die große Bandbreite der Themen und die zugängliche Vermittlung bei gleichzeitig moderatem Umfang des Buches bedeuten aber auch, dass der Leser keine umfassende, tiefgehende Behandlung der einzelnen Themen erwarten kann.
Nun zu den Schwächen: Als jemand, der sich schon länger mit Produkt- und Organisationsentwicklung beschäftigt, stört mich persönlich der normative Ton, mit dem Melissa Perri viele ihrer Konzepte als die „Wahrheit“ verkauft. Einen unangenehmen Beigeschmack bekommt das, als sie am Ende des Kapitels über die Rollen einer Produktorganisation nebenbei erwähnt, dass der vorher mehrfach zitierte Experte ihr Geschäftspartner ist und dass sie Unternehmen beim Aufbau genau dieser Organisationsstruktur berät. Neben stilistischen gab es auch inhaltliche Schwächen, die das Lesevergnügen für mich etwas eingetrübt haben: Den von mir sehr geschätzten Strategieexperten Stephen Bungay zitiert sie meiner Meinung nach inhaltlich falsch.
Mein Fazit: „Escaping the Build Trap“ ist ein guter Startpunkt für eine Reise in das Abenteuer Produktentwicklung und wird sich zurecht zum Klassiker der Produktmanagement-Literatur entwickeln. Für die zweite Auflage würde ich mir allerdings einige kleinere Überarbeitungen wünschen.
Absolute Empfehlung (Daniel)
Ich habe das Buch über das letzte Weihnachtsfest regelrecht verschlungen. Nach langer Vorfreude passte es dann zum Veröffentlichungszeitpunkt ideal zu meinem betrieblichen Alltag, in dem wir zuletzt gestartet haben, “value-driven-development” zu etablieren. Melissa gibt in Ihrem Buch, über das Herunterbrechen von der Strategie bis in den Arbeitsalltag, gute Hinweise zum Vorgehen, die man pragmatisch in Anwendung bringen kann. Auch wenn ich nicht Ihre Product-Kata Bezeichnung übernommen habe, so sind Begriffe wir “Strategic Intents” und “Product Initiatives” direkt von mir adaptiert worden.
Die Stärke des Buchs liegt zum einen in dem Rundumschlag auf nur rund 170 leicht zugänglichen Seiten. Somit kann man das Buch einfach gut lesen. Da erwarte ich auch kein methodisch in die Tiefe gehende Erklärungen. Dafür gibt es genug andere, spezifische Literatur (hier vermisse ich, dass die Autorin nicht auf diese verweist).
Die weitere große Stärke ist der beschriebene Use Case. Hier wird schnell deutlich wie wenig aufwändig es ist, nutzenorientiert und datengetrieben zu entscheiden. Gerade dahingehend unerfahrenen Produktmenschen wird Mut gemacht und gezeigt, dass es eigentlich keine große Hürde ist.
Mein Fazit: „Escaping the Build Trap“ ist ein must read. Es bereichert das Produktbuch- Portfolio und wird sich sicherlich schnell zu einem Klassiker entwickeln. Weil das Buch auf einer gewissen Flughöhe bleibt, eignet es sich auch für eine breite Zielgruppe über Produkt Management und deren Management hinaus.
Fußnoten
- Bei andere Autoren ist dieses Phänomen unter anderem Namen bekannt: John Cutler nennt es die “Feature Factory”, Jeff Gothelf und Josh Seiden plädieren für das Gegenmodell “outcomes over output”.
- Vergleichbar mit Büchern wie „Der Termin“ von Tom de Marco oder „Projekt Phoenix“ von Gene Kim.