In unserem Artikel über Product Discovery habe ich bereits kurz über das Konzept des MVP (Minimum Viable Product) gesprochen und erklärt, warum es wichtig ist, gerade bei neuen Produkten schnell live zu gehen und echtes Nutzerfeedback einzuholen. Da ich das Konzept des MVP für sehr wichtig halte und es hierbei auch einige Missverständnisse gibt, möchte ich in diesem Artikel noch detaillierter darauf eingehen.
Minimal, aber brauchbar
Wie schon mehrfach erwähnt, ist es sehr wichtig, dass man sich frühzeitig Feedback von Nutzern aus der relevanten Zielgruppe einholt – denn sonst läuft man Gefahr, dass man ein Produkt entwickelt, das keinen Mehrwert bietet und daher nicht genutzt wird. Die Herausforderung gerade bei der Entwicklung von neuen Produkten liegt nun darin, einen Funktionsumfang zu finden, der einerseits ein echtes Nutzer-Problem löst (-> das Produkt ist “viable”, d.h. brauchbar); andererseits sollte der Umfang aber nicht zu groß sein, sodass man nicht zu viel Zeit und Ressourcen verwenden muss (-> das Produkt ist “minimal”).
Brant Cooper und Patrick Vlaskovits geben in ihrem Buch “The Lean Entrepreneur” eine schöne Definition für MVP:
Your first MVP will be the first effort to deliver validated value to a known customer. […] Your minimum viable product is comprised of the least amount of functionality necessary to solve a problem sufficiently such that your customer will engage with your product an even pay for it, if that’s your revenue model.
Hiernach ist ein MVP also nicht wie bei Eric Ries nur ein Experiment, um einen Nutzen-Hypothese zu testen, sondern ein echtes Produkt, welches man zumindest einem kleinen Kreis an Nutzern oder Early Adoptern zur Verfügung stellt. Wichtig dabei ist aber, dass der Mehrwert des Produkts schon vorher getestet und validiert wurde, was nach The Lean Startup über Experimente geschieht oder nach Marty Cagan in der Product Discovery.
Minimal sollte ein MVP nicht nur deshalb sein, damit man möglichst wenig Zeit und Ressourcen auf dessen Entwicklung verwendet. Ebenso wichtig ist es, dass ein Zu-viel an Produkt und Funktionen den eigentlichen Kernwert eines Produktes verschleiern kann.
Gerade zu Beginn der Produktentwicklung ist es essentiell zu verstehen, welchen Wert genau ein Produkt bieten soll, sodass die Kunden zufrieden sind, sie das Produkt gerne nutzen und es weiterempfehlen. Ist dieser Kernwert durch zu viele Funktionen schwer zu erkennen, kann dies einerseits negative Auswirkungen für den Nutzer haben, für den das Produkt zu komplex und schwer zu verstehen wird. Aber auch für uns als Produktmanager oder Unternehmer ist es wichtig, den Kernwert nicht aus den Augen zu verlieren, denn die Weiterentwicklung des Produktes, die Vermarktung und das ganze Geschäftsmodells hängen davon ab, was das Nutzerversprechen (die Value Proposition) des Produktes ist.
Probleme und Befürchtungen mit MVPs
Die meisten Produktmanager, Gründer und Unternehmen haben meist nicht nur eine Idee für das Produkt, sondern viele Verschiedene. Zusätzliche Features und Ideen zur Weiterentwicklung schwirren meist schon im Kopf herum, bevor überhaupt eine erste Version released wurde. Daher fällt es uns oft schwer, ein Produkt auf den Markt loszulassen, das aus unserer Sicht noch nicht fertig oder eben nur “minimal” ist.
Häufige Befürchtungen sind, dass das Produkt noch zu viele Fehler und Bugs enthält und daher negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Unternehmens oder der Marke haben könnte. Oder die Angst, die Kunden werden das noch unfertige Produkt nur einmal und dann nie wieder nutzen. Manche befürchten auch, dass ein Wettbewerber die Idee klauen könnte.
All diese Befürchtungen können aber relativiert werden.
- Natürlich soll man kein unbenutzbares Produkt releasen, das bei jeder Benutzung abstürzt – usable ist eine Kerneigenschaft eines MVPs!
- Der Angst, dass die Kunden nie wieder kommen, kann man dadurch entgegenwirken, dass man das Produkt nicht auf alle Nutzer loslässt, sondern nur auf einen ausgewählten Kreis Early Adopter von denen man weiß (oder vermutet), dass sie mit dem MVP etwas tun können, was sie vorher nicht tun konnten. Genau um diese Validierung geht es schließlich.
- Die Befürchtung, dass die Idee geklaut werden kann, ist meistens sowieso unbegründet… schließlich ist der schwerste Teil an der Produktentwicklung nicht, eine Idee zu haben (häufig hatten schon andere Leute eine Idee vorher), sondern eine Idee auch zu einem tragfähigen, nutzbringenden Produkt weiter zu entwickeln.
Es gibt allerdings tatsächlich zwei Bereiche, in denen mit MVPs bedacht umgegangen werden sollte:
- Zum einen bei B2B-Produkten, bei denen die Kunden oder deren interne Prozesse nur mit “fertigen” Produkten umgehen können, weil beispielsweise eine tiefere Integration in das Unternehmensumfeld notwendig ist.
- Zum anderen haben große und namhafte Unternehmen häufig die Angst, ihrer Marke schaden zuzufügen, wenn sie ihren Kunden “unfertige” Produkte zur Verfügung stellen. Doch auch hier gibt es Mittel und Wege, die Risiken zu minimieren (z.B. Launch des MVPs unter einem anderen Firmen- oder Markennamen).
Grundsätzlich gilt aber auch in diesen Fällen, dass ein zu spätes Launchen das viel größere Risiko mit sich bringt, dass man ein Produkt entwickelt, das keiner braucht!
Das MVP testen
Hat man ein MVP erstmalig umgesetzt, sollte man dieses sorgfältig testen. Kern beim Testen eines MVPs ist es herauszufinden, ob das MVP die Kunden / Nutzer zufriedenstellt und ob es diese ggf. sogar begeistert, d.h. die Erwartungen übertrifft. Dies sollte man mit geeigneten Metriken herausfinden. Andere Metriken wie Umsatz o.ä. sind zu diesem Zeitpunkt noch irrelevant!
Messen kann man die Zufriedenheit und Begeisterung entweder qualitativ, z.B. in Usability-Tests und durch Beobachtung der Kunden bei der Nutzungs des Produkts. Oder aber man misst sie quantitativ, entweder indem man sich bestimmte Nutzungskennzahlen in Analytic-Tools anschaut (z.B. Wie häufig wird das Produkt genutzt? Werden gewissen wichtige Funktionen genutzt? Etc.) oder aber durch Umfragen unter den ersten Nutzern, in denen die Zufriedenheit, der Net Prometor Score oder auch der MustHaveScore (“Wie schlimm wäre es für Sie, wenn es das Produkt nicht mehr gäbe?”) erhoben werden.
Ziel der Messung der Zufriedenheit ist herauszufinden, ob man im MVP die richtige Funktionalität für die richtige Zielgruppe bereitstellt. Die Messung der Begeisterung dient dazu herauszufinden, ob man neue Kunden mit möglichst wenig Aufwand bekommt, weil diese durch die bestehenden Kunden eingeladen werden (virales Wachstum) und ob die bestehenden Kunden zu wiederkehrenden Kunden werden.
Ein MVP ist erst der Anfang!
Was nun, wenn das MVP umgesetzt und gelauncht wurde und sich herausstellt, dass die Produktidee tatsächlich einen Mehrwert bringt und die Early Adopter zufrieden oder gar begeistert sind? Dann sind wir fertig mit der Entwicklung und können die große Vermarktung starten um mehr Nutzer zu generieren, oder?
Natürlich nicht! Ein MVP ist, wie der Name schon sagt und das oben beschriebene Zitat von Brant Cooper und Patrick Vlaskovits schön zeigt, nur eine minimale Produktversion, die insbesondere für Early Adopter ein echtes Problem löst. Wenn wir also gelernt haben, was der Wert unseres Produktes für diese Nutzergruppe ist, müssen wir nicht weiter minimal bleiben. Es ist an der Zeit, das Produkt zu erweitern oder zu skalieren. Hierfür gibt es verschiedenste Möglichkeiten:
- Weiterentwicklung, um die Bedürfnisse der Zielgruppe noch besser zu bedienen oder neue Probleme zu lösen, z.B. durch verbesserte oder zusätzliche Funktionen, die weiteren Mehrwert bieten (was wiederum zu validieren ist).
- Weiterentwicklung, um angrenzende, ähnliche Kundensegmente zu erreichen. Denn das Produkt muss hierfür ggf. leicht abgewandelt werden.
- Weiterentwicklung, um eine größere Bindung an bzw. Leidenschaft für das Produkt zu erreichen, z.B. durch Verbesserung der User Experience.
Wichtig bei der Weiterentwicklung des Produkts ist jedoch, dass hierdurch der Kern-Wert, welcher durch das MVP bereits validiert wurde, nicht geschmälert wird.
Es ist nie zu früh
Reid Hoffman, der Gründer von LinkedIn sagte einmal:
If you are not embarrassed by the first version of your product, you’ve launched too late.
Diese Aussage ist vielleicht etwas überzogen und wir sollten uns sicher nicht für unsere Produkte und Ideen schämen. Aber sie bringt schön auf den Punkt, dass ein frühes Testen einer Produktidee mittels MVP wichtig ist.
Wie sind eure Erfahrungen mit MVPs? Konntet ihr bereits euer MVP testen? Was habt ihr dabei gelernt? Teilt gerne eure Erfahrungen mit uns und den anderen Lesern als Kommentar zu diesem Beitrag!
Passt wie Faust aufs Auge, der Vortrag von Darius Kumana im UX Roundtable vom April 2012 – Slides und Audio via http://uxhh.de/roundtable/archiv/index.html#Apr12
Hey, tolles Thema!
Du schreibst “Andere Metriken wie Umsatz o.ä. sind zu diesem Zeitpunkt noch irrelevant!”.
Ich denke, ein MVP sollte auch zwingend das Geschäftsmodell testen, ansonsten verlagere ich eine meiner riskantesten Annahmen (die, ob das BM trägt) unnötigerweise auf einen späteren Zeitpunkt.
Manche (ich glaube Ash Maurya war es) sprechen ja auch von 2 Stadien eines MVPs: (1) Problem Solution Fit und (2) Product Market Fit
Der zweite Fit validiert dann vielleicht eher auf Geschäftsmodell als auf Produktebene.
Man könnte in dem Fall auch von dem “minimum valuable product” sprechen, wobei “valuable” dann wirklich die Wertschöpfung aus einer Value Proposition meint.
Einen anderen interessanten Artikel habe ich neulich hier gesehen: http://blogs.hbr.org/2013/09/building-a-minimum-viable-prod/
Beste Grüße!
Jan
Hallo Jan,
danke für dein Feedback und den Link.
Mit dem Satz “Andere Metriken wie Umsatz o.ä. sind zu diesem Zeitpunkt noch irrelevant!” meinte ich, dass man beim Testen eines MVPs weniger auf absolute Zahlen achten sollte (also z.B. wie viel EUR man konkret mit dem MVP verdient), sondern mehr darauf, ob überhaupt jemand bezahlen will.
Ich habe schon häufiger gesehen, dass zu viel Augenmerk auf absolute Zahlen gelegt wird und diese mit irgendwelchen hypothetischen Business Cases verglichen werden. Da diese Business Cases aber auf Vermutungen basieren (was gerade bei neuen Produktideen ja auch nicht anders möglich ist), ist ein Vergleich der tatsächlichen Zahlen damit also meist wenig hilfreich.
Stattdessen finde ich es wichtiger, dass mit dem MVP überprüft wird, ob 1) ein echtes Problem gelöst wird und 2) man damit prinzipiell irgendwie Geld verdienen kann.
Einen Business Case kann man dann anschließend mit den gewonnenen Erkenntnissen viel realistischer aufstellen, er ist also nicht zwingend notwendig, wenn man mit einem MVP startet – eine Idee reicht meiner Meinung nach aus.
Viele Grüße,
Rainer
Guter Artikel! Ich arbeite derzeit im B2B-Bereich und es ist in der Tat schwierig, grosse Corporate-Unternehmen vom MVP-Ansatz zu überzeugen, aus vielerlei Gründen. Es kann sehr frustrierend sein, zu sehen, wie so unnötiges Geld verbrannt wird. Ich werde nicht aufhören, dieses Thema beim Kunden zu forcieren.
Hallo!
Ich stelle gerade fest, dass ich spät dran bin. :-) Aber vielleicht kommt ja trotzdem eine Antwort…
Den Grundgedanken des MVP habe ich – denke ich – verstanden.
Was mich umtreibt: was kommt nach dem MVP? An einer Stelle habe ich gelesen, MVP wäre kein Produkt, sondern ein Prozess. Aber es heißt doch “Produkt”?!
Wenn ich meine erste Version mit minimalem aber nutzenstiftendem Funktionsumfang erstellt habe und die Anwender wünschen sich noch ein paar Abrundungen – ist das dann noch MVP? Mir fehlt ein Name für die Folgeversion.
Oder umfasst MVP doch die “sinnvolle Lösung” allerdings ohne goldene Wasserhähne?
Wenn MVP nur eine Grundidee ist, dann wäre der Name etwas verwirrend… :-(
Eine Antwort wäre prima! Danke vorab – Nicola
Hallo Nicola,
bitte entschuldige die späte Antwort, aber ja, sie kommt hiermit! ;-)
Im Abschnitt “Ein MVP ist erst der Anfang!” beantworte ich deine Frage ja im Prinzip schon. Das MVP ist die Minimal-Version deines Produktes, mit dem du eine Kern-Hypothese validieren möchtest oder einen ersten Mehrwert für eine erste Zielgruppe (z.B. Early Adopters) schaffen willst.
War das MVP erfolgreich, dann geht es im Folgenden darum, inkrementell und iterativ das Produkt weiter zu entwickeln. Wenn du also einen Namen für die Folgeversion benötigst, dann wäre “Erstes Produktinkrement” ein zumindest richtiger Name… wenn er auch nicht so sexy wie “MVP” klingt ;-)
Hoffe das hilft dir bei deiner Frage.
Viele Grüße
Rainer
Zwei Beiträge zum mittlerweile vielerorts überstrapazierten Deutung von MVP:
– Henrik Kniberg (2016): Making sense of MVP (Minimum Viable Product) – and why I prefer Earliest Testable/Usable/Lovable (http://blog.crisp.se/2016/01/25/henrikkniberg/making-sense-of-mvp)
– Jeff Patton (2018), MVP and why we confuse building to learn with building to earn (https://events.invision.de/hafentalks-11-jeff-patton/)