Was passiert wenn man 800 Designer, Informationsarchitekten und UX-Experten aus 32 Nationen zusammen mit zwei Handvoll Branchen-Gurus in einem alten Gasometer mitten in Amsterdam steckt? Man muss nicht erst einschlägige Lokalitäten in der Innenstadt besuchen, um high zu werden. Vergangene Woche hatte ich zusammen mit zwei OTTO-Kolleginnen die Gelegenheit, die Interaction 14 zu besuchen und ja, ich bin immer noch „high“ von den vielen Eindrücken, neuen Ideen und Methoden, Gesprächen und Kontakten.
Die internationale Konferenz für Interaktionsdesign fand zum ersten Mal auf dem europäischen Festland und zum zweiten Mal überhaupt in Europa statt. Die Konferenz ist eher in Nordamerika zu Hause, gut die Hälfte der Teilnehmer kamen folglich aus den USA oder Kanada. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Konferenzen eine gute Gelegenheit, transatlantische Kontakte zu knüpfen und internationalen Rednern zuzuhören.
Die Interaction 14 fand im Cultuurpark Westergasfabriek statt. Imposantes Zentrum des Geschehens war der „Gashouder”, ein über 100 Jahre alter Gasometer, der die Hauptbühne und den Pausenbereich beherbergte. Zwei weitere Bühnen und Ausstellungsflächen für Interaktionsdesign-Projekte waren in Nachbargebäuden untergebracht. Ein nettes Detail: Die Veranstalter hatten Unmengen von Regenschirmen bereitgestellt, so dass niemand beim Wechsel der Bühne vom Amsterdamer Dauerregen durchweicht wurde.
Insgesamt fanden auf den drei Bühnen über drei Tage verteilt 55 Präsentationen statt, von denen die folgenden sechs mir besonders in Erinnerung geblieben sind (in willkürlicher Reihenfolge):
Pitching Ideas: How to sell your ideas to other people (Video)
Wir kennen unsere Nutzer (hoffentlich) wie aus der Westentasche und können ihnen jedes Bedürfnis von den Lippen ablesen. Aber es fällt uns dennoch oft schwer, unsere eigenen Ideen Kunden, Stakeholdern und Vorgesetzten zu verkaufen. Der holländische Creative Director Jeroen van Geel erklärte uns, wie wir unsere UX-Methoden auch für unser Management einsetzen können. Beim Pitchen einer Idee gehe es nur 10% um die Idee und 90% um den Gegenüber. In der Vorbereitung eines Pitches solle man sich nicht allein fragen, welche Kundenprobleme die Idee löst, sondern auch wie die Idee den Vorgesetzten oder Stakeholder weiterbringen kann. Wie sie vielleicht hilft seine eigenen Probleme zu lösen oder seine Ziele zu erreichen. Hat man erst einmal ausreichend Einblick in die Persona des Entscheiders, wird es deutlich wahrscheinlicher, dass man seine Idee erfolgreich platzieren kann.
Um Ideen auf den Punkt zu bringen, empfahl van Geel die Nutzung der 6-Up-Technik von Adaptive Path in abgewandelter Form: Man soll bis zu sechsmal hintereinander die selbe Idee skizzieren oder aufschreiben. Dadurch erhält man ab der vierten Iteration eine deutlich konkretere und durchdachtere Idee als noch bei der ersten Formulierung.
Food = Interaction (Video)
„Do not eat the chocolates now“ stand in großen Lettern auf der Leinwand. Für manche Teilnehmer aber vielleicht immer noch zu klein oder zu groß. So bediente sich der ein oder andere schon vor dem Vortrag an den Schokopralinen, die auf jedem Sitz lagen, und musste im Anschluss den interaktiven Teil des Vortrags aussetzen. Die Präsentation von Bernhard Lahousse über das Projekt Foodpairing und die gegenseitige Beeinflussung von Sinneswahrnehmungen gehörte definitiv zu den unterhaltsamsten und interaktivsten Sessions der Konferenz. Das Publikum durfte im Selbstversuch anhand der Pralinen und eines Zucker-Zimt-Gemisches die Thesen von Lahousse nachprüfen. Ein Proband auf der Bühne (ich glaube es war der IXDA-Präsident) wurde Teil eines geradezu skurrilen Experiments: Mit verbundenen Augen bekam er (unwissentlich) zweimal den selben Likör zu trinken und sollte dabei beim ersten ein Holzbrett und beim zweiten einen Stoffhasen streicheln. Den Geschmack des ersten Glases beschrieb er dann auch als herber und holziger, den des zweiten Glases als süßer. Verrückt!
Comics: A Medium in Transition
Scott McCloud ist mir bereits vor zehn Jahren im Studium durch sein Buch Understanding Comics über den Weg gelaufen. Dieses ist ein Fachbuch über das Medium Comic, selbst als Comic verfasst. Scott ist ein sehr unterhaltsamer Redner und hat den ersten Tag der Interaction 14 mit einem sehr inspirierenden Vortrag abgeschlossen, von dem es leider keine Aufzeichnung gibt. Am Beispiel von Comics wurde uns das Thema Storytelling näher gebracht, garniert mit vielen weiteren Weisheiten, die auch für die Gestaltung andere Medien gelten: Form und Inhalt sollten zum Beispiel sich niemals für den jeweils anderen entschuldigen. Ein Design sollte also nicht versuchen, inhaltliche Mängel zu übertünchen. Besonders hängen geblieben ist bei mir der folgende Appell:
"Our medium is not ink or pixels it's the knowledge and experience of our readers" – @scottmccloud at #ixd14
— Wolf Brüning (@WolfBruening) February 6, 2014
The executioner’s tale (Video)
Christina Wodtke (ehemals Yahoo, LinkedIn, Zynga) zeigte uns, wie man mit großen Teams produktiv und schnell Ziele erreichen kann. Die Methode dahinter sind OKRs – „Objectives and Key Results“. Das Objective beschreibt dabei das zu erreichende Ziel spezifisch, ambitioniert und zeitgebunden (z.B. 25% mehr Verkäufe im nächsten Quartal). Für jedes Objective werden drei Akzeptanzkriterien – Key Results – festgelegt (z.B. 2 Sales-Mitarbeiter einstellen, Verkaufsprozess um 10% beschleunigen, Conversion Rate auf 5% steigern). Das gesamte Team committed sich auf die OKRs und macht einen wöchentlichen Check-In, um zu prüfen, ob man weiter auf dem Weg ist, seine Objectives zu erreichen. Hierbei wird nicht nur dokumentiert, was angepasst werden muss, sondern auch, was bisher gut gelaufen ist. Dies soll verhindern, dass das Team während der Optimierung bereits gut laufende Prozesse beschädigt.
Laut Christina ist die OKRs-Methode derzeit en vogue bei großen Unternehmen wie Startups im Valley und könnte einmal so einflussreich für die Unternehmenskultur wie The Lean Startup sein. In diesem Business-Insider-Artikel kann man mehr über OKRs erfahren.
Pair design and why you need it
Pair Design and why you need it. My sketchnotes of @chrisnoessel talk. #SketchnotesNewbie #IxD14 @cooper pic.twitter.com/S60zjVVwdp
— Kendra L. Shimmell (@kshimmell) February 8, 2014
Christopher Noessel von der Agentur Cooper gab Einblick in deren favorisierte Arbeitsweise des Pair Designing. Hierbei arbeiten ähnlich wie beim Pair Programming zwei Gestalter zusammen an einem Artefakt, die unterschiedliche Rollen haben: Der Generator hat den Stift in der Hand (eine Regel ist, dass es nur einen Stift im Raum geben darf) und erzeugt damit kontinuierlich Ideen. Der Synthesizer stellt Fragen, versucht das Potenzial und die Nebenbedingungen dieser Ideen auszuloten und dokumentiert die Ergebnisse. Trotz dieses personellen Mehraufwandes lohnt sich laut Chris der Einsatz, da die Ergebnisse kreativer, solider und insgesamt schneller fertig sind. Durch einen regelmäßigen Wechsel in den Paaren verbreiten sich auch Informationen und Best Practices umfassend im gesamten Team (im Gegensatz zum Pair Programming findet hier in der Regel aber kein Wechsel zwischen Gen und Synth statt).
The de-intellectualization of design (Video)
Zwischen all den typisch amerikanischen, also optimistischen Präsentationen, war Daniel Rosenberg dann eher die kalte Dusche. Oder der erhobenen Zeigefinger. Kritisch beschäftigte er sich mit dem aktuellen Zustand von UX und Interaction Design, bei dem aktuell viel häufiger mit Bauchgefühl und Expertenmeinungen als mit wissenschaftlich belegten Methoden gearbeitet wird. Seiner Forderung nach einer offiziellen Zertifizierung des Berufs Interaction Designer mag ich aber nicht folgen. In einer Welt in der sich Technologie und Netzkultur alle fünf Jahre neu erfinden, in der es unzählige talentierte Quereinsteiger gibt und in der interdisziplinäre Zusammenarbeit und interdisziplinäre Profile wünschenswert sind, halte ich eine solche Beschränkung des Berufsbilds für Kontraproduktiv.
Spannend fand ich allerdings seinen Sicht auf das Design von Produkten im Gegensatz zum Design von Lösungen (Solutions). Während sich Produkte iterativ, lean und agil entwickeln lassen, hält Rosenberg diese Vorgehensweisen bei Lösungen für ungeeignet. Lösungen sind nach seiner Definition Projekte und Produkte, deren Ergebnis kritisch ist, z.B. für das Überleben von Menschen. Beispiele hierfür sind medizinische Produkte aber auch die Mondlandung oder ein Atomkraftwerk. Da es hier nur Erfolg oder Scheitern gibt, ist es nicht möglich sich dem Ziel agil über Teilerfolge zu nähren. Anstelle dessen muss man beginnen, vom gewünschten Ergebnis aus rückwärts zu entwickeln. So soll auch die erste Aufgabenstellung bei Planung der Mondlandung die Frage gewesen sein, wie man die Astronauten vom Mond zurück zur Erde bekommt. Die große Gefahr liegt laut Rosenberg darin, dass manche Solutions auf den ersten Blick wie ein Produkt aussehen und dann auch so entwickelt werden.
#ixd14 two types of design problems pic.twitter.com/ya56KKellb
— Conny Petrovic (@produktgestalt) February 7, 2014
Ganz optimistisch schloss er seinen Vortrag mit der Prognose, dass die Welt irgendwann aufgrund eines Problems untergehen wird, welches mit guten UX-Design hätte vermieden werden können.
Und sonst?
Nicht unter den Tisch fallen lassen will ich noch Irene Au (ehemals Google, Yahoo), die uns Yoga und Mindfulness näher brachte und Giles Colborne, der uns in Erinnerung rief, wie wichtig Effizienz für UX und Usability ist. Der Director UX von Microsoft, Surya Vanka, gab einen spannenden Einblick, wie Microsoft mithilfe von Design Thinking und den richtigen Design Principles von einem Unternehmen, dass kaum jemand in eine Liste für gutes Design aufgenommen hätte, auf einmal zum Leader des Flat Design Trends wurde. Auch Dan Browns (der Gründer von eightshapes nicht der Autor von Da Vinci Code & Co.) Anleitung zum Umgang mit Konflikten in Teams war sehenswert. Nicht unerwähnt bleiben soll Klaus Krippendorf, der leider versucht hat, den Inhalt eines kompletten Studienseminars in die Opening-Keynote zu quetschen, wobei sein richtiger und wichtiger Appell nahezu unterging:
"to understand the understanding of others, that is difficult" spoken by Klaus Krippendorff still resonating with me #ixd14
— Simon Norris (@simon_norris) February 6, 2014
Neben diesen und vielen weiteren Vorträgen bleiben von der Interaction 14 unzählige Eindrücke, neue Kontakte und frische Ideen, die in den kommenden Wochen und Monaten in Ruhe nachbereitet werden müssen. Großes Lob gilt den Organisatoren, die ein reibungsloses Großevent in einer tollen Location und mit einem liebevollen Rahmen- und Abendprogramm („UX and the City“) auf die Beine gestellt haben. Auch das WLAN hat sich keine Sekunde Auszeit gegönnt, wovon sich so einige andere Veranstaltung eine Scheibe abschneiden könnten.
Ganz ohne Missklänge kann ein Event dieser Größe aber nicht über die Bühne gehen. Kritikwürdig waren auf jeden Fall die nicht barrierefreien Toiletten und die eher lückenhafte Auszeichnung von vegetarischem und nicht-vegetarischem Essen. Auch wenn es für mich persönlich kein echtes Problem war, hätte ich doch vom liberalen und fortschrittlichen Holland hier mehr Fingerspitzengefühl erwartet. Wie die Opening-Keynote (s.o.) war die Besetzung der Closing-Keynote eher unglücklich. Saskia Sassen war eine intelligente und unterhaltsame Rednerin, aber ihr Thema „Interacting in the Global City“ hatte nur im entferntesten Sinne etwas mit Interaktionsdesign zu tun. Mittendrin musste sie auch pointiert anmerken, dass sie sich ihrer Anwesenheit nicht ganz sicher war. So war die Klammer um eine ansonsten hervorragend kuratierte Konferenz eher schwach.
Das soll aber keineswegs das Erlebnis schmälern, Amsterdam und die Interaction 14 waren definitiv den Besuch wert. Wer sich von euch nun ärgert, diese Konferenz verpasst zu haben, kann dies im Herbst in Buenos Aires und im nächsten Februar in San Francisco nachholen. Und wem dieser Bericht noch nicht gereicht hat, dem kann ich diesen Blog über die Interaction 14 empfehlen.
Auf Flickr findet ihr meine restlichen Bilder von der Interaction 14.