Wir Produktmanager und Interaktionsdesigner sind seit jeher auf der Jagd nach guten Arbeitsmodellen die uns helfen, unsere Nutzer besser zu verstehen. Mal setzten wir Personas ein, um den archetypischen Benutzer abzubilden, mal arbeiten wir mit Ergebnissen aus Kundenumfragen (quantitative Methoden) oder sitzen tagelang in Userlabs um mit dieser qualitativen Methode in die Köpfe unserer Zielgruppe zu schauen.
Doch was, wenn es eine bessere Möglichkeit gäbe? Gibt es die?
Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber bei meinem aktuellen Kunden habe ich eine Methode kennen gelernt, die es meiner Meinung nach verdient hat, von uns als Product-Community mal in die Mangel genommen zu werden. Denn mir erscheint der Ansatz vielversprechend.
Die Methode im Kurzportrait…
Zusammengefasst könnte man den Ansatz so beschreiben: 15 Jahre Grundlagenforschung von Prof. David Scheffer und seinem Team haben ergeben, dass sich mit einem 5-minütigen visuellen Onlinetest Persönlichkeitstypen von Menschen feststellen lassen können. Der Einfachheit halber unterteilt der Test seine Testees in vier Haupttypen mit jeweils vier Untergruppen, auch wenn jeder Mensch in dem Test eine sehr individuelle Ausprägung zeigt. Diese Typen unterscheiden sich in Vorlieben (Form-, Farb- und Figurpräferenzen), Motivationen sowie der Art, Entscheidungen zu treffen.
Ein paar Hintergründe
Die genannte Methode heisst “IPS” (unter anderem auch als NeuroIPS® bekannt) kommt aus dem Fachbereich der Psychologie und fußt prinzipiell auf den gleichen theoretischen Grundlagen wie Tests, die man unter den Namen Myers Briggs Type Indikators (MTBI), DISG oder InsightsMDI kennt.
Allerdings geht diese Methode davon aus, dass die Persönlichkeit von Menschen implizit (unbewusst) messbar ist und zwar anhand der Reaktionen auf optische Reize. Das käme einer Revolution gleich, denn alle gängigen Persönlichkeitstests basieren auf einem länglichen und offensichtlichen (expliziten) Fragenkatalog, den die Testperson auszufüllen hat. Und jeder Mensch verfällt beim Ankreuzen von Antworten ein wenig dem “ich kreuze mal das an, das klingt besser”-Effekt. Mit dem IPS ist das nicht möglich, denn dort muss der Kandidat in einem online-basierten Test lediglich entscheiden, welches von zwei gezeigten Bildern ihm besser gefällt. Nach fünf Minuten ist dann gewissermaßen sein “Prozessor” vermessen worden und es lassen sich Aussagen über seine Persönlichkeit treffen. Daher der Name “Implizites Persönlichkeitssystem IPS”. Wer sich für die Mechaniken näher interessiert, der findet am Ende dieses Beitrags weitere Informationen dazu.
Hat ein Unternehmen also Kenntnis über die Persönlichkeitsstruktur seiner Kunden oder Nutzer, können Rückschlüsse auf Vorlieben in Form-, Farb- und Figurgebung von Apps und Webseiten gezogen werden. Auch Kommunikationsmaßnahmen können zielgruppenspezifisch optimiert werden, denn auch dazu gibt es empirische Erkenntnisse über bestimmte Präferenzen für Inhalte und deren Aufbereitung.
Echte Zeitersparnis – ein Beispiel
Nach einer größeren Akquisition stellten die Mitarbeiter im Marketing eines großen Telekommunikationsanbieters fest, dass die „alten Kunden“ ein total anderes Klickverhalten in den Mailings zeigten wie die „neuen Kunden“. Offensichtliche Unterschiede, die das erklären würden, konnten in den beiden Kohorten nicht gefunden werden. Um diese Unterschiede verstehen zu können, entschied man sich für den Einsatz der IPS-Methode.
Ein Teil des Kundenstamms wurde zum Onlinetest eingeladen (von Kunden wird dieser Test in der Regel gut angenommen, da jeder Mensch gerne etwas mehr über sich erfährt) ca. 1.000 Kunden wurden typisiert und mittels mathematischer Verfahren (statistische Extrapolation) die restlichen Kunden in einer der Hauptgruppen verortet. Dabei kam Erstaunliches zutage: neue und alte Kunden unterschieden sich eklatant in ihren Persönlichkeitstypen.
Das eine Kundensegment bevorzugte seinem Typ nach einen sehr logischen Aufbau von Dingen, eher sachlich aufbereitete Inhalte mit Zahlen und Fakten – und vor allem eine übersichtliche Struktur. Dieser Gruppe geht es um Effizienz und darum, dass Dinge sich rechnen müssen. Die andere Gruppe ergeht sich vom Persönlichkeitstyp her gerne in visionären Ideen und Zukunftsphantasien und möchte daher nur mit wenigen Fakten konfrontiert werden. Gerne entdecken sie Chancen und Möglichkeiten und folgen oder setzen aktuelle Trends. Das sind doch wirklich wertvolle Insights für eine gezielte Kundenansprache.
Sicher hätte sich das Marketingteam des Telekommunikationsriesen über einen längeren Zeitraum auch darauf einstellen können, verschiedene Dinge auszuprobieren und zu lernen. Allerdings konnten sie mit Hilfe der Testergebnisse eine echte Abkürzung nehmen.
Denn MassineScheffer stellt für jeden Persönlichkeitstyp Richtlinien für Informationsaufbereitung und Design zur Verfügung, die in die bestehenden Zielgruppen-Frameworks des Kunden übertragen werden können.
Kann man für die eigene Firma weder die Typisierung einer 1.000er Stichprobe noch die mathematische Extrapolation machen, ist es, so glaube ich, dennoch wertvoll, die unterschiedlichen Typen und ihre Bedürfnisse zu kennen. Schließlich lassen sich in den Produkten, die wir konzipieren, meist sehr einfach pro Typengruppe verschiedene Aufbereitungen von Inhalten anbieten. Warum nicht eine ganz sachliche, datenlastige Aufbereitung für die eine Gruppe anbieten und eine eher emotionale für die andere? Wer weiß, wo die Präferenzen der Typen liegen, kann hier relativ einfach typengerechte Optionen bieten. Die Nutzer könnten so immerhin die Variante wählen, die ihrem Typ am ehesten entspricht.
Ich persönlich habe außerdem gute Erfahrungen damit gemacht, Personas mit den Eigenschaften der Persönlichkeitstypen anzureichern. Das macht sie noch greifbarer und präziser und man beschäftigt sich zusätzlich nochmal mit grundlegenden Motivationen und Vorlieben von Menschen.
Die Hintergründe oder jetzt geht´s ans Eingemachte
Warum kann man von Hirnfunktion auf Persönlichkeitstypen schließen?
In unserem Gehirn sind zwei Systeme am Wirken. Das sog. System 1, zuständig für “Fast Thinking” und das System 2, das mit dem “Slow Thinking” betraut wird (siehe Forschung von Daniel Kahneman). Dabei wird dem System 1 das zugeordnet, was wir „Intuition“ nennen, inklusiver schneller „intuitiver“ bzw. unbewusster Entscheidungen. System 2 ist für alle bewussten „Denkprozesse“ zuständig und für die Entscheidungen, die „abgewägt“ werden müssen.
Die Nutzung der beiden Systeme ist bei jedem Menschen individuell und das Mischungsverhältnis bestimmt maßgeblich unsere Entscheidungen, unser Verhalten und somit unsere Persönlichkeit.
An der Frage, wie diese Forschungsergebnisse Auswirkungen auf die Persönlichkeit eines Menschen haben, wurde wissenschaftlich u.a. von C.G. Jung, J. Kuhl und D. Scheffer geforscht.
Jung entwickelte ein wegweisendes Persönlichkeitsmodell und Kuhl entwickelte die PSI-Theorie, die die Differenzierung von System 1 und 2 näher beschreibt. Beides bietet die Grundlagen für die Beschreibung verschiedener Persönlichkeitstypen.
Prof. Dr. David Scheffer forscht des Weiteren daran, inwieweit ein optischer Test zu interkulturell und zeitlich stabilen Messergebnissen der Persönlichkeit führen kann. Dabei setzen die IPS-Persönlichkeitsdimensionen auf dem Persönlichkeitsmodell von C.G. Jung auf.
Wie ist es möglich, dass aus visuellen Fragen auf meine Persönlichkeit geschlossen wird?
Denken Sie z. B. an die Test-Frage, ob Sie eher ein Quadrat oder eher einen Buchstaben gesehen haben. (vgl. die Abbildung mit dem N-Beispiel).
Personen, die den Buchstaben N erkennen, haben die Fähigkeit, anhand von wenigen Hinweisen in Sprach-, Text- oder Bildform Inhalte oder Muster zu erfassen. Für den Alltag bedeutet dies u.a., dass sich solche Personen wenig und ungerne mit Details beschäftigen. Wenige Informationen reichen ihnen aus.
Personen, die statt dem Buchstaben N einen schwarzen Kasten sehen, sind im Gegensatz dazu Details sehr wichtig. Sie möchten es stets ganz genau wissen, brauchen viele Informationen, um einen Sachverhalt kritisch prüfen zu können.
Die IPS®-Persönlichkeitsdimensionen – auf welchen Achsen wir uns unterscheiden
Wie schon erwähnt unterscheiden sich die Menschen in ihrer individuellen Ausprägung in folgenden Persönlichkeitsdimensionen und nutzt die, auch aus dem Myers Briggs Typindikator bekannten, Dimensionen von C.G. Jung
- Woher beziehe ich als Individuum meine Antriebsenergie – von außen (E) oder innen (I) ?
- Wie nehme ich Informationen aus der Umwelt wahr – mit Aufmerksamkeit fürs Detail (S) oder mit Blick für den großen Zusammenhang (N) ?
- Was ist die Grundlage für meine Entscheidungen – eher Denken (T) oder eher Fühlen (F) ?
- Wie konsistent sind meine Entscheidungen –eher stabil (J) oder flexibel und spontan (P) ?
Sobald man den Onlinetest, den sog. ViQ®-Test, absolviert hat, kennt man seine individuelle Ausprägung aber auch seinen Persönlichkeitstyp (das ist einer von 16, z.B. INTJ oder ENTP) und seinen Haupttyp (das ist einer von vieren, z.B. ST oder NF).
Nach Lektüre der mitgelieferten Typbeschreibung versteht man sich selbst ein ganzes Stück besser und, wenn Kunden für ein Unternehmen analysiert wurden, kann man Rückschlüsse auf deren Präferenzen ziehen.
Der ST-Typ strebt in seinem Tun z.B. vor allem nach Kontrolle und Unabhängigkeit, der SF-Typ strebt nach Gemeinschaft und Harmonie, der NF-Typ nach Anregung und Abwechslung und der NT-Typ nach Exklusivität und Einfluss.
Das bedeutet, dass beispielsweise der ST-Typ möglichst informationsreich und geradlinig angesprochen werden will, der SF-Typ möglichst partnerschaftlich und subjektiv einfühlsam, der NF-Typ kreativ und der NT-Typ in Form einer nur angedeuteten ganzheitlichen Vision. Das alles muss konsistent, nicht nur in der Tonalität, sondern bis in das letzte visuelle Detail erfolgen, wobei die Anwendung von IPS in erheblichem Maße behilflich ist.
Mein Fazit ist, dass es sich in jedem Fall lohnt, sich etwas mehr mit den psychologischen Hintergründen von Wahrnehmung und Entscheidungsfindung beim Menschen zu beschäftigen, um Produkte noch angenehmer und einfacher gestalten zu können. Eine Annährung über die Persönlichkeitstypen ist dazu eine gute Möglichkeit.
Sollte es in der Produktentwicklung ein Budget für Marktforschung oder User Research geben würde ich auf jeden Fall darüber nachdenken, diese Methode einzusetzen. Denn sie schafft eine angenehme Abkürzung in der Produktkonzeption und führt schneller zur idealen Informationsaufbereitung und Angebotsgestaltung.
Mehr erfahren…..?
Webseite
- MassineScheffer & Partners (www.massinescheffer.com)
- Test selbst mal durchklicken? Email an christina.vogel@massinescheffer.com
Buch- & Vidoetipps
- TED talk: Susan Cain: The power of introverts
- Motivation und Persönlichkeit: Interaktionen psychischer Systeme (Julius Kuhl)
- Typisch Mensch – Einführung in die Typentheorie (Bents, Blank)
Quellenangaben:
- u.a. Jung, C. G. (2008). Typologie. München: dtv.
- Scheffer, D. & Heckhausen, H. (2011). Eigenschaftstheorien der Motivation. In J. Heckhausen, H. Heckhausen (Hrsg.), Motivation und Handeln, 4. Auflage, 45-72. Berlin: Springer.
- Scheffer, D. & Kuhl, J. (2009). Volitionale Prozesse der Zielverfolgung. Enzyklopädie der Psychologie, Band: Arbeitspsychologie. Göttingen: Hogrefe.