Jedes Produkt ist vier verschiedenen Arten von Bedrohungen ausgesetzt. Dieser Artikel beschreibt diese Bedrohungen zusammen mit den Innovationen, mit denen der Produktmanager sie bekämpfen kann.
Einführung
Der Produktmanager trägt die Verantwortung für ein oder mehrere Produkt(e) im Unternehmen. Er sorgt dafür, dass die ihm anvertrauten Produkte wirtschaftlich erfolgreich sind. Zu seinen Aufgaben gehören die Identifikation von Produktverbesserungen, die Verfolgung von Markttrends und die Beobachtung des Wettbewerbs.
Als Innovationsdienstleister arbeiten wir oft mit Produktmanagern zusammen und kennen die Herausforderungen, die die Produktverantwortung mit sich bringt. Aus diesem Anlass heraus haben wir das oben abgebildete Denkmodell entwickelt, das dem Produktmanager helfen soll, Innovationsaufgaben zu identifizieren und Prioritäten zu setzen.
Das Modell hat die bekannte Form einer 2×2-Matrix. Die horizontale Dimension der Matrix unterscheidet die beiden Geschäftsziele Überleben des Unternehmens (Survival) und Gewinnpotential (Profitability). Die senkrechte Dimension der Matrix ist eine Zeitachse; sie unterscheidet zwischen jetzt bzw. bald (Now/Soon) und der ferneren Zukunft (Future). Daraus ergeben sich vier Kombinationen, die unterschiedliche Bedrohungen für ein Produkt darstellen und die jeweiligen Innovationsaufgaben nennen, mit denen diese Bedrohungen abgewehrt werden können.
Quadrant I: Heute überleben
Im Quadranten unten links befinden wir uns in der Produktgegenwart: Das Unternehmen verdient Geld, indem es das Produkt verkauft oder für dessen Nutzung eine Gebühr erhebt. Würde der Absatz bzw. die Nutzung des Produktes nachlassen oder sogar ganz versiegen, droht schnell die Gefahr der Insolvenz (Insolvency). Wir haben die Innovationsaufgabe in diesem Quadranten Wartung (Maintenance) genannt, weil der Produktmanager dafür sorgen muss, dass durch kleine Maßnahmen sein Produkt attraktiv bleibt. Hier spielt Kundenfeedback eine wichtige Rolle, denn es liefert Hinweise, wie das Produkt angepasst werden soll. Auch Debugging gehört in diesen Quadranten, denn Fehler im Produkt müssen schnell behoben werden. Werden die Wartungsaufgaben nicht ausreichend erledigt, droht Kundenunzufriedenheit. Diese wiederum kann zu Stornierungen, Klagen und negative Presse führen, was das Unternehmen schnell in eine wirtschaftliche Notlage bringen kann.
Nach unserer Erfahrung haben Unternehmen diesen ersten Quadranten gut im Griff: Sie haben Prozesse eingerichtet, um Kundenfeedback zu sammeln und zu bewerten sowie um die notwendigen Verbesserungen schnell durchzuführen. Gleichzeitig aber scheinen Produktmanager unverhältnismäßig viel Zeit in diesem Quadranten zu verbringen, was auf Kosten der anderen Bereiche geht. Dies ist wohl auf die Dringlichkeit zurückzuführen, mit der Kundenwünsche und plötzlich auftretende Probleme den Alltag bestimmen.
Quadrant II: Die Konkurrenzfähigkeit erhalten
Die Gefahr, die im zweiten Quadranten unten rechts droht, ist die Minderwertigkeit (Inferiority) des Produktes. Jeder Aspekt des Produktes, der gegenüber der Konkurrenz schwächer ist und jeder Schritt der Herstellung des Produktes, der zu teuer ist, schwächt die Gewinnmarge des Unternehmens.
Die Innovationsaufgabe hier ist die Weiterentwicklung des Produktes und die Optimierung seines Entstehungsprozesses. Zur Weiterentwicklung gehören das Hinzufügen neuer Features oder die Erhöhung seiner Leistungsfähigkeit. Diese Maßnahmen dienen dazu, die Wettbewerbsfähigkeit des Produktes zu erhalten, denn die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht, und sie arbeitet beharrlich an der Weiterentwicklung ihrer eigenen Angebote. In dem Augenblick, in dem das Produkt keine oder nur noch schwache reduzierte Vorteile gegenüber der Konkurrenz hat, kann es nur noch zu einem verminderten Preis abgesetzt oder für eine weniger anspruchsvolle Anwendung eingesetzt werden. In diesen Quadranten gehören auch Optimierungen in der Produktion, der Instandhaltung und der Logistik, um die Effizienz zu erhöhen und Kosten zu reduzieren.
Nach unserer Erfahrung nimmt dieser Quadrant im Bewusstsein der Produktmanager den meisten Platz ein: Sie sehen in der Fortentwicklung der Produkte und der Prozesse ihre hauptsächliche Arbeitsaufgabe.
Quadrant III: Den Gewinn ausbauen
Wenn das Produkt erfolgreich ist und Gewinne abwirft, kann es als Sprungbrett verwendet werden, um zusätzliche Geschäfte aufzubauen und so Umsatz und Gewinn zu erhöhen. Dieses Vorgehen wird auf englisch Exploitation genannt, was auf deutsch etwa Ausnutzen heißt. Eine bessere Übersetzung wäre aber Ausbau. Unternimmt man keinen Ausbau, droht eine Stagnation, wo die Umsätze und Gewinne des Produktes unter ihren Möglichkeiten bleiben.
Eine wichtiges Konzept bei der Ausbauinnovation ist die Plattform: Ein etabliertes Produkt wird als Grundlage für diverse Varianten und Ergänzungen verwendet, die sich an weitere Märkte oder Zielgruppen richten. So kann man auf einer Plattform aufbauend mit wenig Aufwand neue Erlöseströme erschließen. Beispiele hierfür aus der Spielzeugwelt sind die vielen Accessoires, die zu der beliebten Barbie-Puppe mit angeboten werden oder die Bausätze, die aus Lego-Steinen zusammengestellt werden. Auch können die Kompetenzen und Fähigkeiten, die zur Entwicklung eines neuen Produktes aufgebaut worden sind, dafür verwendet werden, weitere – vielleicht branchenfremde – Produkte anzubieten.
Ein zweiter, häufig begangener Weg der Ausbauinnovation ist die Maßanfertigung (Customization). Hier wird das Grundprodukt in verschiedenen Versionen angeboten, die sich für Nischenanwendungen oder -märkte eignen. Diese zusätzlichen Versionen können Standardvarianten oder auch Einzelanfertigungen sein.
Nach unseren Beobachtungen kommt dieser Bereich der Matrix bei Produktmanagern erstaunlich selten zum Vorschein. Scheinbar ist vielen das große Potential der Exploitation nicht bewusst: Sie sehen erfolgreiche Produkte und die dahinter liegenden Ressourcen nicht als Ausgangspunkt für weitere Geschäftsgelegenheiten an.
Quadrant IV: Den Generationenwechsel meistern
Im vierten und letzten Quadranten geht es um das Lebensende eines Produktes. Früher oder später erreichen viele Produkte auf Grund von Entwicklungen im Markt, in der Mode oder in der Technologie das Ende ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Vor 50 Jahren beispielsweise wurden Dampfloks durch Diesel- und Elektroloks ersetzt, und gegenwärtig erleben wir die Ablösung von Zeitungen und Zeitschriften durch Informationsquellen im Internet. Die Innovationsaufgabe des Produktmanagers besteht darin, rechtzeitig(!) die Entwicklung des Nachfolgeproduktes einzuleiten und den Übergang zu bewerkstelligen. Wir nennen diese Aufgabe Replacement (Ersatz). Unternehmen, die diese Aufgabe versäumen, droht die Irrelevanz ihres Produktes und damit das Ausscheiden aus dem Markt. Beispiele hierfür gibt es genug; zu den berühmtesten gehört die Firma Kodak, die den Wechsel von der Film- zur Digitaltechnologie verschlafen hat und jetzt aus dem privaten Fotografiemarkt verschwunden ist.
Dieser Quadrant gehört zu den anspruchsvollsten für den Produktmanager, und er ist mit einer Vielzahl von Themen gefüllt. Hierzu gehören die Beobachtung von neuen Technologien und Markttrends, die Gefahr von Disruptionen aus unerwarteten Richtungen und die vielen Möglichkeiten, die Open Innovation anbietet.
Anwendung des Modells
Das Modell hilft dem Produktmanager, den Überblick über die vier verschiedenen Kategorien von Innovationsaufgabe zu behalten. Es kann als Ausgangspunkt für die Planung der Innovationsaktivitäten und als Visualisierungshilfe für Strategiediskussionen verwendet werden.
Uns als externen Innovationsberatern hilft das Modell, die bisherige Vorgehensweise eines Klienten kennenzulernen und Ansätze für weitere Maßnahmen zu identifizieren. Ein typisches erstes Ergebnis der Modellvorstellung ist die Erkenntnis des Klienten, dass er sich zu viel im ersten Quadranten aufhält und dass er das Potential von Quadrant III unterschätzt.
Poster
Für den Praxiseinsatz haben wir das Gefahren-/Innovationsmodell als Poster (PDF) zum herunterladen gestaltet.
Hallo Graham,
psychologische Überlegungen können erläutern, warum die dargestellten Quadranten unterschiedlich stark in der Praxis gelebt werden.
Im ersten Quadrant geht es ums Überleben. Die Firma hat ein oder mehrere Projekte mit Kunden realisiert. Es gibt vorhandene Strukturen. Alle Akteure können sich rein auf Reaktionen beschränken, um den Status quo am Leben zu erhalten. Reagiert wird auf Beschwerden des Kunden und schwerwiegende Mankos im Produkt, die als notwendig zu beheben erkannt wurden. Hier wird reagiert, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Für mich ist das ein einfaches Handlungsmuster, weil sich die Entscheidung zum Handeln durch die Situation im Außen zwangsweise ergibt. Notsituationen haben meist den Vorteil, dass selbst eine Gruppe an einem Strang zieht, weil die Lage für wirklich jeden eindeutig und unmissverständlich zu beurteilen ist.
Der Quadrant II betrifft die Weiterentwicklung des Produktes. Dies entsteht aus meiner Sicht ganz natürlich, weil die Firma aktiv nach neuen Projekten und Kunden sucht. Da nicht jeder Kunde gleich ist, wird er hier und dort Änderungswünsche an das Produkt stellen, bevor er dies kauft. Gehe ich von einem neuartigen Produkt aus, liegt nahe, dass die Firma noch gar nicht das Wissen besitzt, ein Standardprodukt für viele Kunden zu definieren. Das kann erst durch konkrete Erfahrungen über die Zeit oder die richtige Vision zur rechten Zeit gepaart mit dem dazu notwendigen Wissen zur Umsetzung entstehen. Damit ist es leicht, auf Basis einer Produktgrundlage stets in Weiterentwicklungen des Vorhandenen zu denken. Es bedient auch das offenbar bevorzugt projektgetriebene Denken und Handeln sowie das Abarbeiten konkreter Kundenanfragen.
Im Quadrant III wird der Gewinn ausgebaut. Ich stelle mir die Schwierigkeiten hier so vor, dass meist ein Standardprodukt, welches mit wenig Aufwand projektspezifisch umkonfiguriert werden kann, fehlt. Erst dieser Standard deckt die Möglichkeiten eines großen Marktes ab. Sofern auf Basis des gleichen Produkts noch recht viele Anpassungen machen muss, damit es für ein neues Projekt passt, bin in automatisch wieder in Quadrant II und den dortigen Entwicklungsaufwendungen. Habe ich jedoch einen Standard, der sich einfach für unterschiedliche Anwendungsprofile ohne viel zusätzlichen Entwicklungsaufwand anpassen lässt, die Entwicklung also gar nicht mehr involviert werden muss, so habe ich mir ein Potential geschaffen, um über den Tellerrand hinauszublicken. Erst dann werden Dinge mit dem Produkt möglich, die über das ursprüngliche Ansinnen hinausgehen. Es setzt ein durchdachtes Produkt voraus. Das Geld, was die Firma mit dem Produkt verdient, muss so groß sein, dass Zeit und Ressourcen da sind, in diese Richtung denken zu können. Solange die Firma in einer Art Überlebenskampf ist, findet dieser Schritt aufgrund schlechter Randbedingungen voraussichtlich nie statt.
Selbst wenn die ersten drei Quadranten ideal ausagiert werden, koennte Qudrant 4 zum Problemfall werden. Sogar Quadrant III halte ich nicht für notwendig, um rechtzeitig den nächsten Trend zu erkennen. Eventuell ermöglicht die Früherkennung der Firma, den nächsten Trend besser zu realisieren und dort in den Quadrant III zu kommen. Die Schwierigkeit bei 4 besteht darin, dass es um neues Wissen geht und die Beurteilung, wie sich das auf den Markt und die vorhandenen Produkte auswirken wird. Haeufig laden wir uns mehr Arbeit auf, als wirklich schaffbar ist. Wir müllen uns mit Arbeit zu oder es ist leicht, sich nur mit dem Alltagsgeschäft herumzuschlagen. Wir leisten uns keine Freiräume, denn das wäre es ja, wenn ich fern meiner Alltagsprobleme nur technologische Trends beobachte und mir dann überlege, welche Auswirkung dies auf die Zukunft meiner Produkte hätte. Den Handlungsdruck am Ball zu bleiben, muss ich mir also selbst auferlegen. Wenn ich warte, bis Kunden das anfragen, könnte ich den neuen Trend bereits verschlafen haben. Quadrant IV ist also durch einen bewussten Gestaltungsakt für die Zukunft zu bedienen, den sich eine Firma oder Einzelperson gezielt stellen muss.
Viele Grüße
Detlev