Warum Technik-Enthusiasten zu positives Feedback geben – und wie man das aufdeckt

Bei der Entwicklung von gebrauchstauglichen Produkten ist man auf Feedback der Zielgruppe angewiesen. Aber gerade bei technischen Produkten zieht man bei Evaluationen oft Personen an, die gerne mit Technik interagieren (z. B. „Early Adopters“). Diese probieren Technik gerne aus, unterscheiden sich aber von der breiten Zielgruppe. Falls Probleme auftreten, lösen sie diese meist selbst und nehmen sie entsprechend auch nicht als gravierend wahr. Das Feedback ist dann vielleicht positiv, aber auch verzerrt. Die Ergebnisse basieren zwar auf Personen aus der Zielgruppe, aber nur auf einem bestimmten Segment. Sie spiegeln die spätere Zielgruppe nicht korrekt wieder und es ist entsprechend schwer, die richtigen Entscheidungen für die nächste Iteration des Produktes zu treffen.

Um bessere Entscheidungen treffen zu können, muss man mögliche Verzerrungen bezüglich der Affinität zur Technikinteraktion in der Stichprobe schnell und einfach entdecken können. Stellt man eine verzerrte Stichprobe fest, kann man gezielt, z. B. wenig oder hoch technikaffine Personen nacherheben.

Der ATI-Fragebogen

Um die Affinität zur Technikinteraktion schnell und einfach zu erheben wurde der ATI-Fragebogen in der Arbeitsgruppe Ingenieurpsychologie und Kognitive Ergonomie an der Universität zu Lübeck (Prof. Thomas Franke, Dr. Daniel Wessel) sowie an der Universität Chemnitz (Christiane Attig) entwickelt.

Er bietet eine schnelle und ökonomische Methode, um die Technikaffinität von Teilnehmern auf einer Dimension von sehr wenig technikaffin bis sehr hoch technikaffin abzubilden. Dafür werden den Personen neun Aussagen präsentiert, die sie auf einer sechsstufigen Antwortskala von „stimmt gar nicht“ bis „stimmt völlig“ für sich selbst beantworten sollen. Die neun Items erlauben die Erfassung der Technikaffinität mit hoher Präzision (interne Konsistenz: Cronbach’s Alpha von .83 bis .94, basierend auf acht Studien mit insgesamt über 1.500 Personen).

Der Fragebogen wird mit der folgenden Einleitung den Teilnehmenden vorgelegt:

Zur Auswertung werden die Antworten der Person wie folgt codiert:

  • stimmt gar nicht = 1
  • stimmt weitgehend nicht = 2
  • stimmt eher nicht = 3
  • stimmt eher = 4
  • stimmt weitgehend = 5
  • stimmt völlig = 6

Bei den drei negativ formulierten Aussagen (03, 06, und 08) müssen die Werte dann noch umgedreht werden (6=1, 5=2, 4=3, 3=4, 2=5, 1=6). Hintergrund ist, dass bei Aussagen 01, 02, 04, 05, 07, 09 eine Zustimmung hohe Technikaffinität bedeutet, bei den Aussagen 03, 06, und 08 dagegen geringe Technikaffinität. Die Umcodierung von einzelnen Aussagen hilft, Teilnehmende zu identifizieren, die z. B. einfach zu allen Fragen zustimmen, was hier wenig Sinn ergeben würde. Abschließend wird der Mittelwert über alle 9 Items (3 davon umgedreht) gebildet. Der Wertebereich geht dabei von 1 bis 6. je höher der Wert, desto höher die Technikaffinität (Affinität für Technikinteraktion).

Verteilung der ATI-Werte

Wie unterschiedlich technikaffin die Teilnehmenden sein sollten, hängt von den zu entwickelnden Produkten ab. Ist eine universelle Gebrauchstauglichkeit angestrebt, macht es Sinn, den gesamten ATI-Bereich abzudecken. Erste Untersuchungen mit einer Quotenstichprobe (die Verteilung von Alter, Geschlecht, und Bildungsstand entspricht weitgehend der Bevölkerung in Deutschland, publiziert in Franke, Attig & Wessel, 2018) ergaben die folgende Verteilung:

Mögliches Einsatzszenario

Schauen wir uns den möglichen Nutzen einmal anhand eines Beispiels an, das auf einer durchgeführten Studie basiert. Angenommen man möchte ein Produkt entwickeln, dass in allen Altersbereichen genutzt werden soll. Die Rekrutierung von älteren Probanden gestaltet sich als schwierig, aber man hat zumindest einige ältere Personen gewonnen, die das Produkt evaluieren:

Ist damit alles in Ordnung? Das kommt darauf an, wer das Produkt verwenden soll. Wenn man den ATI-Wert erfasst, könnte man Folgendes feststellen:

Im jüngeren Altersbereich deckt die Stichprobe (fast) den ganzen ATI-Bereich ab (vertikale Achse). Aber je älter die Teilnehmenden sind, desto höher ist deren Affinität für Technikinteraktion. Das ist merkwürdig, weil jüngere Personen im Allgemeinen lieber mit Technik interagieren. Entsprechend hat man vermutlich eine Verzerrung in der Stichprobe. Man hat zwar ältere Personen erhoben, aber eben vor allem sehr technikaffine ältere Personen. Wenig technikaffine ältere Personen, die vermutlich eigene Schwierigkeiten im Umgang mit dem Produkt haben werden, werden nicht berücksichtigt. Entsprechend geht deren Feedback auch nicht in die weitere Produktentwicklung mit ein. Schlimmstenfalls entwickelt man damit an diesem Zielgruppesegment vorbei! Bei einer reinen Betrachtung des Alters ist dies nicht sichtbar, die Verzerrung in der Stichprobe wird erst bei der Verwendung der ATI-Skala sichtbar.

In der Quotenstichprobe sieht man hingegen, dass Alter und Technikaffinität in der Interaktion leicht negativ zusammenhängen — je älter die Personen, desto wenig technikaffiner sind diese. Der untere rechte Bereich der folgenden Abbildung wäre in der Evaluation ignoriert worden:

Entsprechend gibt die ATI-Skala einen schnellen Überblick, wie gerne die Teilnehmenden mit Technik interagieren. Insbesondere bei einer grafischen Darstellung (z. B. als Histogramm der ATI-Werte oder Streudiagramm zusammen mit anderen interessanten Merkmalen wie Alter) werden mögliche Lücken in der Zusammensetzung der Evaluationsstichprobe sichtbar, die dann über spezifische Rekrutierungen geschlossen werden können.

Normwerte, Typen und Grenzen zwischen hoch und niedrig technikaffinen Personen

Natürlich wäre es hilfreich, wenn es schon Normwerte geben würde, welche Technikaffinität man in welchen Bereichen erwarten kann. Bisherige Befunde sind vielversprechend, dass dies möglich ist (z. B. konnten wir Unterschiede zwischen Studiengängen identifizieren). Allerdings können wir bisher nur etwas zur Quotenstichprobe sagen, d.h. wie die Technikaffinität insgesamt verteilt ist (siehe erstes Diagramm). Für Angaben für bestimmte Bereiche fehlen uns noch belastbare Daten. Entsprechend freuen wir uns über Informationen, wenn der Fragebogen eingesetzt wird.

Weitere Informationen

Weitere Informationen zur ATI-Skala und der Fragebogen in Deutsch und Englisch sind unter ati-scale.org verfügbar.

Fragebogen herunterladen →

Der Fragebogen wurde 2018 im International Journal of Human–Computer Interaction publiziert. Die Zitationsform nach APA ist:

Franke, T., Attig, C., & Wessel, D. (2018). A personal resource for technology interaction: Development and validation of the Affinity for Technology Interaction (ATI) scale. International Journal of Human–Computer Interaction. DOI: 10.1080/10447318.2018.1456150

Bei Fragen und Anmerkungen freuen wir uns über eine eMail an ati@imis.uni-luebeck.de oder ein Kommentar hier im Blog.

Über Dr. Daniel Wessel

Daniel arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Ingenieurpsychologie und Kognitive Ergonomie am Institut für Multimediale und Interaktive Systeme der Universität zu Lübeck. Er beschäftigt sich vor allem mit empirischer Forschung und Evaluationen im Schnittbereich aus Psychologie und (digitaler) Technologie.

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