UX-Design und Inklusion: Warum sehschwache Menschen keine Sonderzielgruppe für Produktdesigner:innen sein sollten

Der beginnende Frühling bringt nicht nur gute Laune durch warme Sonnenstrahlen mit sich, sondern auch die Möglichkeit, das Home-Office auf Balkonien zu verlagern – oder in den Park – je nach Lust und räumlichen Möglichkeiten. Doch sobald die hellen Strahlen in einem bestimmten Winkel auf unsere Augen leuchten, kneifen wir sie zusammen und schauen teils nur noch mit einem Auge auf den Bildschirm. In den meisten Fällen sehen wir dann alles etwas matter oder dunkler. Oftmals müssen wir sogar eine flache Hand über unsere Augenbrauen halten, um überhaupt noch irgendetwas zu erkennen. Ein klassischer Fall von Sehbeeinträchtigung – oder eben eine Unterkategorie der Sehschwäche.

Denn Sehschwäche meint nicht nur – entgegen vielen Vermutungen und Vorurteilen – sehbehinderte Menschen, die dauerhaft weniger oder gar nichts visuell wahrnehmen können. Auch temporär eingeschränkte Sehende fallen in eine Gruppe, die UX-Designer:innen immer in ihren Kreationen mitbedenken müssen.

© Pexels.com / Luis Quintera

Menschen haben Grenzen – Geräte überschreiten sie

Das größte „Problem“, wenn es denn überhaupt so genannt werden kann, ist, dass Geräte überwiegend so konzipiert werden, dass sie uns Menschen in unseren besten Phasen weitestgehend unterstützen. So soll ein wacher Autofahrer durch das Navi ans Ziel geleitet werden.

Viel zu selten bedenken UX-Designer:innen aber den Fall, dass die jeweiligen User nicht ihrer besten Verfassung sind. Wenn sie beispielsweise durch äußere Beeinträchtigungen oder räumliche Gegebenheiten schlechter hören, sehen oder das Tablet nur aus einem bestimmten Winkel wahrnehmen können. In der kritischen Infrastruktur wurden technische Produkte kreiert, um die menschliche Kapazitätsgrenze zu erweitern und uns dabei zu helfen, noch mehr und besser leisten zu können – ohne mehr Aufwand zu betreiben. Wenn aber jene Einschränkungen schlichtweg vergessen werden, dann wird ein Anteil an Usern in seiner Nutzung diskriminiert. Ihre Benachteiligung wurde vergessen, sodass sie das jeweilige Gerät schlechter nutzen können und dadurch einen spürbaren Nachteil erleiden.

Warum also werden so viele Systeme für den Best Case designed und nicht andersherum? Die Nutzung von Geräten in stets optimalen Verhältnissen ist ein solch unwahrscheinlicher Fall, dass eigentlich immer irgendwer minder effizient mit den jeweiligen Systemen arbeiten kann. Würde die Herangehensweise umgekehrt werden, dann hätten alle die gleichen Chancen und könnten unabhängig von ihrer Tagesform mit reichlich Energie nach Hause zurückkehren – nämlich mit der, die sie durch die leichte Nutzung des Tablets gespart haben.

Sehschwäche muss kein dauerhaftes Symptom sein – das Mitdenken der Geräte jedoch schon

Ein Beispiel: Eine professionelle Software wurde eigens für ein Krankenhaus entwickelt, um interne Prozesse zu erleichtern und zu beschleunigen. Das Personal arbeitet hier im Schichtdienst, tagsüber und nachts. Die Mitarbeiter:innen sind aufgrund der belastenden Arbeit oft müde und erschöpft. Hinzu kommt die dauerhafte Nutzung der Technologie, da ein Krankenhaus eben kein kleiner Betrieb ist. In den eben genannten Fällen kann es durch Müdigkeit oder unterschiedliche Lichtverhältnisse vermehrt zur Sehschwäche bei einzelnen Personen kommen.

Auch Krankheiten, wie etwa eine Erkältung oder Kopfschmerzen können das visuelle Wahrnehmungsvermögen mindern. Die Folgen bei einem Gerät, welches solche Fälle nicht mit einberechnet, wiegen schwer. Bestimmte Arbeitsprozesse dauern viel länger oder werden sogar falsch angegangen. Der Frust über fehlende Erfolgserlebnisse ist ebenso eine Folge wie der Zweifel an den eigenen Kompetenzen – bin ich langsamer oder gar schlechter geworden? Warum arbeiten andere Kolleg:innen effektiver? Dabei kann das Problem an der Software liegen und dem fehlenden Mitdenken der jeweiligen Designer:innen.

Ästhetik ist hinfällig, Effizienz muss sein: Erst die Wissenschaft gibt klare Antworten

Was bedeutet das jetzt für UX-Designer:innen? Ein Gerät muss mitdenken! Und zwar in vielerlei Hinsicht. Folgend sind die wichtigsten Punkte gelistet, die unbedingt beachtet werden müssen:

  1. Die Anzahl der Elemente auf dem Bildschirm darf die Wahrnehmung nicht überladen. Der effektivste Schritt geht hier gen Gruppierung. Einzelne Auswahlmöglichkeiten, die in eine ähnliche Richtung gehen, dürfen gesammelt und auf einer weiteren Unterseite angeordnet werden. Das kann in etwa einem Navigationssystem ähneln, wo der User an die Hand genommen wird und durch einzelne Unterkategorien geführt wird.
  2. UI Elemente wie Buttons sollten unbedingt als solche zu erkennen sein und dürfen sich dabei auch gerne an anderen Anwendungen orientieren. Denn nichts verwirrt Nutzer:innen beispielsweise mehr, als wenn ein Button unüblich aussieht, an einer untypischen Stelle angeordnet ist oder aufgrund seiner Größe kaum auffällt. Die menschliche Wahrnehmung funktioniert schneller, genauer und besser, wenn das Visuelle verstanden wird – aufgrund von Erfahrungen oder der eigenen Logik.
  3. Ein weiterer und der wahrscheinlich wichtigste Punkt für sehschwache Menschen ist der Farbkontrast. Es gibt einzelne Beispiele, wo aufgrund der Ästhetik dunkelbrauner Text auf hellgrauem Hintergrund deponiert wurde. Diese Farbkombination ist selbst für User mit perfekten Sehverhältnissen schwer zu fassen, weshalb länger nach benötigten Elementen beziehungsweise Informationen gesucht wird. Die Ästhetik verhindert hier somit die effizienteste Nutzung. Laut WCAG 2.1 sollte für normale Texte – unter 18 Punkt oder 14 Punkt fett – ein Kontrastverhältnis von mindestens 4,5 : 1 eingehalten werden, um die Stufe AA zu erreichen. Weiterhin sollte die Rot-Grün-Schwäche, welche mittlerweile vermehrt auftritt, ausschlaggebend dafür sein, dass eben jene beiden Farben in der Kombination nicht in UX-Designs vorkommen sollten.

    Farbkombinationen, die funktionieren © Creative Navy

    Kontraste schaffen bessere Sichtbarkeit von Elementen © Creative Navy

  4. Auch die Schriftgröße- und Art spielen wesentlich in die Fähigkeit, alles auf einem Bildschirm effizient zu erkennen, mit ein. Es sollten gut lesbare und einfache Schriftarten genutzt und darauf geachtet werden, dass die Größe der Texte anpassbar ist. Logischerweise erleichtern größere Buchstaben das Lesen und Verstehen von Texten ungemein. Die empfohlene Mindestschriftgröße für Bildschirme beträgt 18 Pixel oder 14 Punkt, je nachdem, welche Maßeinheit verwendet wird. Serifenlose Schriftsammlungen sind besonders praktisch, da diese laut unterschiedlichsten Studien schneller und einfacher zu lesen sind. Beispiele hierfür sind etwa Arial, Helvetica, Verdana und Roboto.
  5. Ein guter Zeilenabstand schafft Raum zwischen einzelnen Buchstaben und Sätzen und verbessert somit auch die Effizienz der Lesbarkeit. Die empfohlene Zeilenhöhe liegt normalerweise bei 1,4 bis 1,6 Mal der Schriftgröße. Ebenso sollte auch der Buchstabenabstand mit Bedachtheit eingestellt werden. Eine Faustregel besagt, dass dieser – für den optimalen Fall – auf 2 bis 5 Prozent der Schriftgröße einzustellen ist.
  6. Bei der Textausrichtung sollte der übliche Blocksatz vermieden werden, da er ungleichmäßige Wortabstände erzeugen kann, die das Lesen deutlich erschweren. Stattdessen eignet sich die Linksbündigkeit besser.

Keiner der eben genannten Faktoren sollte beliebig und nach eigener Einschätzung vorgenommen werden, sondern akribisch an der jeweiligen Zielgruppe und somit den wahren Usern getestet werden. Erst dann kann tatsächlich von Inklusion beim UX-Design gesprochen werden, obwohl diese Thematik nur ein Beispiel in der allgemeinen Gestaltungs-Arbeit darstellt. So muss auch das Endergebnis noch einmal verschiedenste Testungen durchlaufen und zusätzlich durch den Screenreader oder an einer Vergrößerungssoftware geprüft werden, um wirklich sicherzugehen, dass es für Menschen jeglicher Sehschwächen in gleichem Maße zugänglich ist.

Alle Teile der Serie UX-Design und Inklusion

In dieser Themenreihe werden wir nach und nach weitere Fälle von Personengruppen aufarbeiten, die bei nicht wissenschaftlichem UX-Design unter Umständen diskriminiert werden. So wie auch im Fall von Menschen mit einer dauerhaften Sehbehinderung.

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Über Dennis Lenard

Dennis Lenard ist Gründer sowie Geschäftsführer von Creative Navy, einer der ersten UX-Design-Agenturen weltweit, die auf Basis wissenschaftlicher Daten arbeiten. Neben den Kognitionswissenschaften studierte Lenard auch Europäisches Recht, visuelle Kommunikation und Wirtschaft. Zusammen mit seinem Team aus 15 Expert:innen arbeitete der Produktarchitekt unter anderem für namenhafte Kund:innen wie Unicef, UNO, eToro, PwC, Miele, Ford oder General Motors.

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