Storytelling & User Journeys:Warum es unsere Nutzer verdient haben, wie Helden behandelt zu werden

In meiner Kindheit hatte ich eine ungeheure Faszination für Wasserrutschen. Dieses kurze Gefühl von Schwerelosigkeit beim Start, kombiniert mit dem Thrill der Geschwindigkeit und dem abrupten Aufklatschen im Auffangbecken in der Hoffnung, niemandem dabei in den Rücken zu springen. Es war ein süchtig machender Adrenalinschub, den man sich aber hart erarbeiten musste.

Erst die schier endlosen, glitschigen Treppen. Oben angekommen dann die Entscheidung ob man nun Rutschen will oder nicht und nach dem Überwinden des Point of no Returns, war das Vergnügen nach wenigen Sekunden bereits vorbei. Ein endloser Kreislauf aus Anstrengung und Spaß, aber er war es wert und hatte mich komplett in seinem Bann.

Mittlerweile bin ich etwas älter und die Vernunft (ergo mein Rücken) zwingt mich, meine Zeit anderweitig zu nutzen. Als UX-Designer im eCommerce-Bereich von OTTO versetze ich mich in die Nutzer meines Produktes hinein und versuche mittels User Journeys zu verstehen, warum sie immer und immer wieder dieselben Strapazen auf sich nehmen. Eine fummelige Navigation, umständliche Produktvergleiche oder fehlerhafte Gutscheincodes – Alles nur, um am Ende den Adrenalinschub des Kaufabschlusses zu erfahren. Wie bei einer gut konzipierten Wasserrutsche.

Sind UX-Designer Geschichtenerzähler?

UX-Designer entwickeln Produkte, welche die Nutzer auf einer unterbewussten Ebene ansprechen und führen sollen. Erfasste Journeys helfen dabei, die Erwartungen und Wünsche so abzubilden, dass die User in der Lage sind, ihr eigenes “Happy End” zu erreichen. Wie ein Protagonist, der sich dazu aufmacht, die ihm auferlegte Prophezeiung zu erfüllen – auch wenn es sich dabei beispielsweise “nur” um das Reservieren von Kinotickets handelt.

Der Überschnitt zwischen Drehbuchautoren und Nutzerverstehern ist also größer, als man auf den ersten Blick sieht und spiegelt sich am ehesten in der Fähigkeit zum empathischen Denken wieder. Doch warum sollte man sich dann überhaupt mit den Grundlagen des Storytellings auseinandersetzen?

Sometimes reality is too complex. Stories give it form. – Jean Luc Godard

Geschichten können uns inspirieren. Sie können eine Klaviatur an Emotionen im Zuhörer auslösen. Sie können uns etwas über uns selbst beibringen, von dem wir noch nichts wussten. Was früher Märchen und Heldenlieder am Lagerfeuer waren, sind heute Blockbuster und bedeutungsschwangere HBO-Dramen, welche die Menschen in ihren Bann ziehen. Dass dabei viele Geschichten nur Neuinterpretationen altbekannter Klischees und Muster sind, fällt einem dabei nicht nur beim Kinobesuch des neuesten Marvel-Films auf. Es ist nur logisch, dass sich im Laufe der Zeit Patterns gebildet haben, die immer wieder auftreten. Was wäre, wenn selbst die Grundstruktur aller großen Geschichten dieselbe ist?

Hollywoods Pattern Library

Mitte des 20. Jahrhunderts publizierte der Philosoph Joseph Campbell den Monomyth, der auch heute noch das Basiswissen für Drehbuchautoren auf der ganzen Welt darstellt. Der Monomyth ist eine archetypische Erzählstruktur, die auf immer wiederkehrende Charakteristika einer effektiven Story zurückgreift. Diese sind unabhängig von Herkunft, Zeit oder Religion. Auslöser war dafür seine Entdeckung von diversen Parallelen zwischen den Mythen der amerikanischen Ureinwohner und den Geschichten des Christentums, obwohl Zeit und Distanz es unmöglich machten, dass diese Kulturen sich gegenseitig hätten beeinflussen können.

In 12 Schritten beschreibt er darin die klassische Heldenreise, wie wir sie auch heute noch regelmäßig von Hollywood vorgesetzt bekommen. Frodo / Marty McFly / Luke Skywalker wird aus seinem Alltag gerissen um (zuerst widerwillig) ein waghalsiges Abenteuer zu bestreiten. Ein Mentor (Gandalf / Doc / Ben Kenobi) hilft ihm dabei, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich den Prüfungen und Gefahren zu stellen. Er durchläuft immer herausforderndere Schwierigkeiten, wird eventuell sogar geschlagen, steht dann aber wieder auf um – mächtiger als je zuvor – erfolgreich in seine Heimat zurückzukehren.

(zum Vergrößern anklicken)

Schon hier lassen sich Parallelen zu einer Customer Journey feststellen. Jedoch sind die 12 Schritte nur schwer in ein schlankes Modell gießen, mit dem sich effektiv arbeiten lässt. Bei meiner Recherche stieß ich dann aber auf den “Story Circle” von Dan Harmon, der den Monomyth auf 8 schlanke Schritte kürzt, um das Modell für noch mehr Anwendungsfälle fit zu machen.

Was ist der Story Circle?

Our society, each human mind within it and all of life itself has a rhythm, and when you play in that rhythm, it resonates. – Dan Harmon

Diesen alles überspannenden Rhythmus beschreibt Harmon mit einem Kreis, den er in der Mitte horizontal teilt. In der oberen Hälfte befindet sich unsere Komfortzone, Dinge, die sich kontrollieren lassen: Leben, Bewusstsein und Ordnung. Darunter die unbequemen Pendants dazu: Tod, Unterbewusstsein und Chaos, die zu dem Yin das zugehörige Yang bilden. Um die Balance zu wahren, muss ein Individuum seine Komfortzone verlassen um sich etwas Neues anzueignen. Er nennt als Beispiel unsere menschliche Evolution, die auf einem Kreislauf aus Leben und Tod fußt. Oder den gesellschaftliche Fortschritt, der tagtäglich vorangetrieben wird von Erfindern, Forschern und UX’lern (*hüstel*), die sich mit dem Chaos auseinandersetzen um Ordnung zu schaffen.

Laut Harmon folgen alle Stories diesem Pattern aus dem Absteigen ins Ungewisse und Wiederauferstehen. Dies ist der Beat, der den Rhythmus vorgibt – und somit auch eine Erwartungshaltung. In unser aller Unterbewusstsein ist dieser Rhythmus vorgegeben und wenn wir es schaffen, die richtigen Noten zu spielen, wird unser Publikum dazu mit der Zunge schnalzen.

Im Uhrzeigersinn gelesen erzählt sich der Story Circle folgendermaßen:

When YOU have a NEED, you GO somewhere, SEARCH for it, FIND it, TAKE it, then RETURN and CHANGE things.

Das klingt erstmal wie von einem Höhlenmenschen in eine Felsformation geritzt. Es ist aber (vielleicht auch gerade deshalb) die Kurzversion jeder jemals erzählten Geschichte. Wir BRAUCHEN / GEHEN / SUCHEN das Feuer, einen Partner zur Reproduktion, einen Weg zum Mond. Aber noch viel wichtiger ist es, zurückzukehren um die gewonnenen Erkenntnisse anzuwenden und in die Gesellschaft zu tragen. Dafür steht die vertikale Linie in dem Kreis. Der Anwender muss sich verändern im Laufe des Prozesses. Die horizontale Linie repräsentiert die eingangs erwähnte Komfortzone, die erst einmal verlassen werden muss, bevor die Änderung angestoßen werden kann. Man taucht ab in das Unbekannte – aber erst, wenn dieser Kampf gegen den inneren Schweinehund gewonnen wurde. Harmon beschreibt die einzelne Phasen beispielhaft am Plot von “Stirb Langsam” (Vorsicht, Spoiler-Alert!)

Was hat der Story Circle mit User Journeys zu tun?

“Users spend most of their time on other sites” postulierte Jakob Nielsen einst und fasste damit hervorragend zusammen, dass Menschen nach Deckungsgleichheit zu ihrem eigenen mentalen Modell suchen. Das hilft dabei, den kognitiven Aufwand gering zu halten und eigene Handlungen besser einzuschätzen. Gehen wir also davon aus, dass alle Nutzer denselben Rhythmus erwarten, dann sollte sich der Story Circle eignen um in seiner User Journey genau die richtigen Noten zu treffen. Riskiert man einen genaueren Blick und erweitert die Phasen entsprechend, wird dies besonders deutlich:

Story Cycle angepasst

(zum Vergrößern anklicken)

  1. You – Die Persona beschreiben.
  2. Need – Was ist sein Problem? Was könnte der Auslöser, der Call to Adventure sein, der von nun an ein Bedürfnis beim Nutzer schürt. Das ist seine Motivation, die ihn durch die Journey trägt.
  3. Go – Etwas Neues ausprobieren. Um voranzukommen, ist der Nutzer gezwungen aus seiner Komfortzone herauszutreten. Ein äußerer Impuls, wie zum Beispiel eine Werbeanzeige oder die Empfehlung eines Freundes kann hierbei auslösend sein.
  4. Search – Auf der Suche nach dem richtigen Werkzeug. Der Nutzer begibt sich auf einen Pfad voller Prüfungen und Herausforderungen. Er kennt zwar sein grobes Ziel, aber er muss sich erst einmal einen Überblick darüber verschaffen um den Weg dorthin zu ebnen. Nutzerbewertungen oder gut durchdachtes Onboarding können hier als Mentor agieren und den Nutzer bei der Hand nehmen um ihn vor Fehlern oder Sackgassen zu bewahren. Aber auch wenn das nicht gelingt – ein Scheitern ist vollkommen ok, solange der Nutzer nicht aufgibt sondern daraus lernt.
  5. Find – Endlich hat der Nutzer das passende Werkzeug für sein Problem gefunden und nähert sich damit der eigentlichen Lösung an. Hier findet eine entscheidende Verlagerung statt: wo vorher dem Protagonisten eine passive Rolle zufiel, kann er nun aktiv werden und sich eigentlichen Problemlösung annehmen in dem er dies aktiv anstößt.
  6. Take – Jetzt wo der persönliche Mehrwert realisiert wurde, ist der Nutzer bereit in das Produkt oder den Service zu investieren. Wobei die deutsche Übersetzung dem ganzen dabei nicht unbedingt gerecht wird – so kann man unter dem “Invest” auch das Aufbringen von Zeit oder das zur Verfügung stellen persönlicher Daten sehen.
  7. Return – Die Nutzungshürden werden geringer und Rentabilität wächst. Der Nutzer beginnt sich an das Feature zu gewöhnen und schätzt es immer mehr. Nun ist es an der Zeit zum Alltag zurückzukehren, im Gepäck die neue Erkenntnis, welche auf der Journey erlangt wurde. Mit dem Überschreiten dieser Grenze folgt das Produkt dem User in seine Komfortzone.
  8. Change – Für unseren Protagonisten wurde das Produkt ein integraler Bestandteil seines Lebens. Das muss aber nicht bedeuten, dass er auf täglicher Basis verwendet. Man kann es sich eher wie ein Werkzeug vorstellen, dass fest auf seiner Werkbank verankert ist. Sollte sich der Bedarf ergeben, kann es sofort herangezogen werden um erneut zur Problemlösung zu schreiten.

Geht das auch einfacher?

Dies ist natürlich ein recht komplexer Kreislauf mit vielen verschiedenen Schrittfolgen. Allerdings muss man nicht immer so tief in die Heldenreise einsteigen um den Kontext und die Motivation eines Nutzers zu verstehen. Viel wichtiger ist es, die Schwerpunkte jeder Geschichte zu erkennen und hervorzuheben. Hierbei hilft der Blick auf die horizontal und vertikal liegenden Schwellen zwischen den Phasen.

Mal angenommen ein Nutzer streift scheinbar ziellos durch einen Webshop. Bei näherer Analyse seines “Needs” stellen wir fest, dass die angezeigten Produkte ihn schon anfixen, aber ihn nicht zu einer nachhaltigen Interaktion verleiten. Durch die Implementierung eines Merkzettels könnte man allerdings den entscheidenen Impuls setzen, sich tiefgründiger mit der Kaufentscheidung auseinanderzusetzen, damit wäre die erste Horizontale überschritten. Doch damit ist es nicht getan, erst muss das Feature und der damit verbundene Mehrwert verstanden werden um auch sinnvoll verwendet zu werden. Ein gut durchdachtes Onboarding und geringe Einstiegshürden helfen diesen holprigen Pfad auf der “Search” nach dem Mehrwert zu beschreiten.

Sobald der Nutzer dies verstanden hat, nutzt er das neue Wissen um seinen Stöberfluss noch effektiver zu gestalten, investiert vielleicht sogar noch mehr Zeit um neue Features wie mehrere Listen oder Preisalarme zu nutzen und kehrt mit einem komplett verwandeltem Verhalten (hoffentlich noch häufiger) in den Shop zurück. Er ist jetzt sowas wie der “Neo” der gezielten Kaufannäherung und alles was er brauchte, war die metaphorische “rote Pille”.

Ein gutes Produkt nimmt den Nutzer also an die Hand und sorgt für den entscheiden Push, der ihn über diese Schwelle hebt. Genauso wie Frodo, der nie ohne Gandalf seine Komfortzone verlassen hätte, braucht es manchmal einen äußeren Impuls, eine Inspiration, die das Bedürfnis nach einem Abenteuer oder vielleicht auch nur einem Beamer weckt. Doch damit ist es nicht getan. Der Spannungsbogen muss aufrechterhalten werden, um den Helden auf seiner Suche zu unterstützen und ihn auch durch die folgenden Phasen zu helfen. In diesem Sinne ist der Story Circle nichts anderes als das uneheliche Kind einer Customer Journey Map und einem Fiebertraum von Steven Spielberg.

Die von Harmon beschriebenen wiederkehrenden Muster sind dabei jedoch nicht als Zeichen fehlender Originalität zu verstehen. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Grundgerüst. Wie eine Tonleiter, welche die entsprechenden Werkzeuge zur Verfügung stellt um ein angenehmes Klangbild zu erzeugen, nur das hier am Ende kein Pop-Song steht, sondern eine ruckelfreie User Journey.

Die Werkzeuge des (Geschichten)-Erzählers

Welche Zutaten machen einen guten Film aus? Sofort schießen alle Hände im Raum empor: “Spielfreudige Darsteller!” – Korrekt. “Ein logisches Drehbuch mit gewitzten Dialogen” – Auch vollkommen richtig, genau wie eine gelungene Bildkomposition. Jedoch ist all das Nichts wert, wenn diese Werkzeuge nicht auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers muss gewonnen werden, damit er sich auf die Geschichte einlassen kann. Man stelle sich Sin City mit lebensbejahenden, bunten Farben vor. Oder Lichtschwertduelle, die mit Heavy Metal Musik unterlegt worden. Es würde einfach nicht funktionieren.

Auch Interfaces jedweder Art bestehen aus einer Bandbreite an verschiedenen Elementen wie Farbpaletten, Typografie, Navigation oder Fehlerkommunikationen. Versteht man das Ziel und den “Story-Arc” des Anwenders, kann man diese Mittel nutzen um sich ganz auf seine Geschichte auszurichten und ihn Stück für Stück an sein Ziel heranzuführen. Die bedeutenden Schwellen, die dafür überwunden werden müssen, lassen sich unter Anwendung des Story Circles identifizieren.

Solltet ihr als das Nächste mal mit wackelnden Beinen auf der Startplattform einer Wasserrutsche stehen, denkt daran, dass ihr kurz davor steht Heldenhaftes zu leisten und ein Wasserrutschen-Architekt alles dafür gegeben hat, euch auch zu genau diesem Schritt zu motivieren.

Über Stefan Bauer

Stefan ist als UX Designer in der Abteilung User Experience der OTTO GmbH & Co KG tätig, wo er mit seinen Kollegen Nutzererkenntnisse generiert, Konzepte entwickelt und otto.de auf dem Weg zur Plattform begleitet. Vor seinem Engagement im eCommerce studierte er Medieninformatik an der Hochschule Harz, wo neben UX auch einen Faible für Editing, Animation und gut erzählte Geschichten entwickelte. Nach dem Gewinn des Jugendvideopreis Sachsen-Anhalt 2012 beschloss er auf dem Höhepunkt seiner Filmkarriere aufzuhören und den Fokus auf UX Design zu legen.

2 Kommentare

  1. Joerg

    Danke für die interessante Annäherung via Story Circle.
    Ich würde sagen, bis zum Punkt 5 (Personal Value) steht eindeutig Storytelling/Marketing im Vordergrund.
    Erst danach wird UX und Featureset zunehmend relevant – natürlich sind die Übergänge fließend und ein gutes Zusammenspiel ist immer wichtig.

    Viele Websites machen allerdings den Fehler den User schon zu früh mit Features zu erschlagen – wenn das “Durchhaltevermögen” noch recht gering ist, weil ihm noch die persönliche Antwort auf “Warum ausgerechnet diese/s/r Website, Produkt, Service…?” fehlt.



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