Die Produktmanagement-Wahrheit

Online-Produktmanagement ist in einer spannenden Phase. Nahezu täglich erscheinen Bücher mit neuen Ansätzen und die Anzahl der Blogs ist schier unüberschaubar geworden. Ein zentrales Thema dabei ist die Sehnsucht und Suche nach Dem Einen Wahren Produktmanagement-Prozess. Irgendwo muss doch die Blaupause sein, die nur befolgt werden muss, um erfolgreich zu sein, die eine Anleitung, mit der alle Probleme auf einen Schlag beseitigt sind?

Aufbauend auf diesem durchaus verständlichen Wunsch, mit dem wir auch bei überproduct immer wieder konfrontiert werden, hecheln viele Tag für Tag den unterschiedlichen Strömungen und Konstrukten hinterher – aus Angst, den einen wegweisenden Blog-Eintrag zu verpassen, der einem die Augen öffnet. Das Ergebnis ist eher kontraproduktiv. Die Masse an Informationen erschlägt einen und man verzettelt sich ein einem Wirrwarr unterschiedlicher Ansätze und in Aktionismus, ohne wirklich voranzukommen.

Die schlechte Nachricht ist: Die Produktmanagement-Welt ist einfach zu komplex und unterschiedlich, um sie in das eine Erfolgsrezept zu pressen, das man einfach nur Schritt für Schritt auspacken und befolgen muss.

Die gute Nachricht ist: Es gibt mittlerweile viele etablierte Ansätze, die einem das Leben als Produktmanager erheblich vereinfachen können. Wichtig dabei: Trotz aller Unterschiede sind die dahinterliegende Grundansätze recht einheitlich. Der Rest drum herum ist oftmals Geschmackssache und Anpassung an die jeweiligen Rahmenbedingungen. Wer sich nicht im Dogmatismus einzelner Strömungen verliert, kann sich also sein persönliches Rezept flexibel zusammenstellen.

Aus meiner Sicht sind die folgenden Punkte die Kernzutaten für ein erfolgreiches Produktmanagement:

  1. Klare Vision
  2. Konkrete Kundenzentrierung
  3. Geschäftsmodell-Denken

Über die Relevanz von Produktvisionen hat Rainer schon an anderer Stelle geschrieben. Zusammen mit der Mission, die eine konkretere Vorstellung über den Weg zur Vision liefert, ist die Produktvision Basis und zentrale Leitplanke für das Produktmanagement. Ohne sie wird man recht schnell in den Weiten der Optionen in der Online-Welt verloren gehen. Das Produktmanagement selbst kann hier zwar wichtigen Input liefern, Vision und Mission sind aber Teil der größeren Unternehmensstrategie und damit vom Management-Team bereitzustellen. Leider sind in der Praxis genau da die größten Probleme vorhanden. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei weniger um ein Erkenntnis- als vielmehr um ein klassisches Führungsproblem. Wer in seinem Unternehmen selber Probleme in diesem Bereich sieht, dem empfehle ich Stephen Bungay und speziell sein Buch „The Art of the Action“, um die Diskussion in die richtige Richtung zu lenken und damit überhaupt erst wieder die Chance auf ein vernünftiges Produktmanagement zu eröffnen.

Kundenzentrierung ist wahrlich keine neue Erfindung. Die Bedeutung der Kundenzentrierung musste aber erst wieder neu entdeckt werden. Vor der Industrialisierung war ein Produktmanager (auch wenn er damals wahrscheinlich noch nicht so genannt wurde) ohne Kundenkontakt gar nicht denkbar. Jeder, der ein Produkt hergestellt hat, war mit den Kunden in direktem Kontakt. Erst mit der Industrialisierung ging der Kontakt verloren: Massenproduktion und Skaleneffekte, Spezialisierung der Arbeit und des Knowhows waren hier die entscheidenden Treiber, die durch den starken technologischen Fortschritt im Bereich menschlicher Grundbedürfnisse weiter befeuert wurden. Wer in den entstehenden Käufermärkten eine Waschmaschine oder einen Fernseher auch nur halbwegs gut hinbekommen hat, für den war der Erfolg weitestgehend garantiert. Produktmanager zogen sich hinter ihren Schreibtischen zurück, anstatt wie vorher direkt mit Kunden in Kontakt zu stehen.

Mit konkreter Kundenzentrierung als ein Grundbaustein für Online-Produktmanagement meine ich genau die Übertragung des direkten Kundenkontakts, der vor der Industrialisierung üblich war. Der Nutzer muss in der realen Umgebung beobachtet und verstanden werden, um dann mit sichtbaren Objekten iterativ testen zu können. Das ist deutlich mehr und viel intensiver als der in der Online-Welt dominierende Nutzertest im Labor anhand von Klick-Dummys. Die wohl vielfältigsten praktischen Ansätze und die pragmatischste Ausrichtung hat dabei das Design hervorgebracht, das in Form von Design Thinking ein reiches Methodenset bereitstellt. Einen guten Überblick über verschiedene Methoden zusammen mit einer überzeugenden Struktur bietet zum Beispiel Vijay Kumar in seinem Buch 101 Design Methods.

Ein erfolgreiches Produkt besteht immer aus mehr als dem reinen Produkt. Daniel hat in seinem Post „Produktmanager Mind-Set“ ja schon kurz beschrieben, mit welchen Dimensionen ein Produktmanager in der Praxis umgehen muss. Das „Geschäftsmodell“ funktioniert meist nur mit Produktmanagement, Vertrieb, Marketing und Kunden-Service und im Zweifel mit weiteren externen Kooperationspartnern drum herum. Nur wer über reines Stakeholder-Management hinaus in Geschäftsmodellen denkt und alle Optionen berücksichtigt, die sich aus den einzelnen Funktionen ergeben, wird ein überzeugendes Produkt im Sinne eines überzeugenden, ganzheitlichen Service-Designs gestalten können. Alex Osterwalder hat mit dem Business Model Canvas einen Rahmen geschaffen, mit dem das Geschäftsmodell-Denken einfach möglich wird. Schlüssel für die Umsetzung ist dann, die betroffenen Abteilungen konsequent in die Verantwortung zu nehmen (Stichwort „Skin in the Game“) und in die Gestaltung einzubinden.

Fazit: Produktmanagement ist also mehr als reine Kundenzentrierung, die aktuell so sehr im Fokus steht. Eine Patentlösung zum Nachkochen gibt es nicht und wird es auch nie geben. Wer die Grundelemente des Produktmanagements verinnerlicht hat, kann in der nächsten Stufe den noch viel wichtigeren Schritt gehen: Praxis, Praxis, Praxis! Denn Verstehen ist das eine, Anwenden ist das andere. Letzteres kommt immer noch viel zu kurz. Wir sehen immer noch viel zu viele Produktmanager alleine hinter ihren Rechnern, zu lange und oft in endlosen Meetings diskutieren, anstatt zu machen und zu kreieren. Und wir sehen viel zu viel Theoretisieren, anstatt an Prototypen zu entscheiden. Wir sehen zu wenige Produktmanager schon in der Ideenphase außerhalb des Büros, die Hypothesen (in)validieren. Nur wer über alle Dimensionen viel ausprobiert (bzw. ausprobieren kann), wird für sich einen Werkzeugkasten bauen können, der flexibel auf alle Problemstellungen anwendbar ist. Rein praktisch wird man nie alle Anforderungen in einer Person überzeugend vereinen können, es gilt ein Team zu formen, das alle geforderten Eigenschaften zusammen aufweist und damit die Gesamtaufgabe erfüllt. Das Ziel muss sein, alle Werkzeuge schnell und sicher anwenden zu können, wenn es darauf ankommt.

Über Christian Becker

Christian ist Gründer und Geschäftsführer von productable und unterstützt Teams dabei, aus Ideen erfolgreiche Produkte und innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln. Zuvor hat Christian das Produktmanagement und die User Experience Abteilung bei mobile.de geleitet.

Ein Kommentar

  1. Christoph Ullmann

    Hallo,
    sehr interessanter Artikel. Ich finde es sehr gut, dass es mal jemand ausspricht: Es gibt nicht DEN Produktmanagement Ansatz!

    Ich halte das Thema kundenzentrische Produkte für extrem wichtig. Diese Thema ist meiner Meinung nach schon stark in den Köpfen verankert, allerdings wird es nicht konsequent umgesetzt bzw. missinterpretiert. Viel zu oft höre ich noch: “Der Kunde möchte, ….”

    Auch wenn das Zitat schon relativ oft “missbraucht” wurde , benutze ich es gern um anderen Abteilungen (z.B. einem nicht produktionnahen Vertrieb) klar zu machen was kundenzentrisch für mich bedeutet.

    „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt schnellere Pferde.“ Henry Ford

    Es geht nicht darum, dass zu machen was ein Kunde sagt, sondern zu verstehen warum er sich etwas wünscht und auf diese Bedürfnisse einzugehen.

    Viele Grüße,
    Christoph


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